Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Und jetzt erschien auch Miss Ingram auf der Szene. Sie hatte ebenfalls eine orientalische Tracht angelegt; eine purpurrote Schärpe war um ihre Taille geschlungen, ein reich gesticktes Tuch um den Kopf geknüpft. Ihre wohlgeformten Arme waren bloß, der eine stützte einen Krug, den sie mit der vollkommensten Anmut auf dem Haupt balancierte. Sowohl ihre Gestalt wie ihre Züge, ihre Gesichtsfarbe und ihr ganzes Aussehen weckten den Gedanken an eine israelitische Prinzessin aus den Tagen der Patriarchen. Und eine solche sollte sie zweifelsohne auch darstellen.
Sie näherte sich dem Marmorbassin und beugte sich darüber, wie um ihren Krug zu füllen. Dann hob sie ihn wieder auf das Haupt empor. Die Gestalt am Brunnen schien jetzt zu ihr zu reden, ihr eine Bitte vorzutragen, ›… und eilends ließ sie den Krug hernieder auf ihre Hand und gab ihm zu trinken.‹ Dann zog er aus den Falten seines Gewandes ein Juwelenkästchen, öffnete es und ließ kostbare Armspangen und Ringe vor ihren Augen funkeln.
Sie spielte Erstaunen und Bewunderung, er kniete nieder und legte ihr die Schätze zu Füßen. Nun zeigte sie ungläubigeFreude, der Fremde aber legte die Spangen um ihre Arme und befestigte die Ringe an ihren Ohren. Es waren Elieser, der Knecht Abrahams, und Rebekka – nur die Kamele fehlten.
Die ratende Gesellschaft steckte wieder die Köpfe zusammen; augenscheinlich konnten sie sich nicht über das genaue Wort oder die Silbe einigen, welche dieses Bild illustrieren sollte. Colonel Dent, der Sprecher, verlangte »das
tableau
des Ganzen«, und hierauf fiel der Vorhang erneut.
Als er zum dritten Mal in die Höhe ging, war nur ein Teil des Gesellschaftszimmers sichtbar. Der übrige Raum war durch einen Wandschirm verdeckt, der mit einer groben, düsteren Draperie verhängt war. Das Marmorbassin, welches im letzten Bild den Brunnen vorgestellt hatte, war entfernt worden, an seiner Stelle stand ein roh gezimmerter Holztisch und ein Küchenstuhl. Diese Dinge erblickte man bei dem Lichte, welches eine alte Stalllaterne gab; sämtliche Wachskerzen waren ausgelöscht.
Inmitten dieser elenden Umgebung saß ein Mann. Seine geballten Fäuste ruhten auf den Knien, seine Blicke waren auf den Boden geheftet und der Rock hing ihm lose vom Rücken herab, als wäre er ihm in einer Rauferei beinahe vom Leib gerissen worden. Er zeigte einen verzweifelten, düsteren Gesichtsausdruck und das Haar hing ihm wild und verworren um die Stirn. Ich erkannte Mr. Rochester trotz seines beschmierten Gesichts und seiner unordentlichen Kleidung. Als er sich bewegte, klirrte eine Kette; auch an den Händen trug er Fesseln.
»Bridewell!«, rief Colonel Dent aus, und die Scharade war gelöst.
Geraume Zeit verstrich, während welcher die Darsteller des lebenden Bildes ihre Gesellschaftskleider wieder anlegten. Endlich traten sie wieder in den Speisesaal. Mr. Rochester führte Miss Ingram am Arm, sie machte ihm große Komplimente für seine Darstellungskunst.
»Wissen Sie, dass mir von Ihren drei Figuren die letzte Darstellung bei Weitem am besten gefiel? Ach, wenn Sie doch nur einige Jahre früher gelebt hätten! Welch ein galanter Gentleman-Straßenräuber wären Sie gewesen!«
»Habe ich allen Ruß aus meinem Gesicht gewaschen?«, fragte er und wandte ihr sein Gesicht zu.
»Ja, aber es ist jammerschade drum! Sie können nichts finden, was Sie besser kleidete, als die Schminke eines Raufbolds.«
»Sie könnten also einen Helden der Straße lieben?«
»Ein englischer Wegelagerer käme gleich nach einem italienischen Banditen; und dieser könnte wiederum nur von einem levantinischen Piraten übertroffen werden.«
»Nun, was ich auch sein mag, vergessen Sie nicht, dass Sie mein Weib sind. In Gegenwart all dieser Zeugen ist vor einer Stunde unsere Trauung vollzogen worden.«
Sie kicherte und ein tiefes Rot bedeckte ihre Wangen.
»Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Dent«, fuhr Mr. Rochester fort.
Als der andere Teil der Gesellschaft sich nun zurückzog, nahm er mit seiner Truppe die leeren Sitze ein. Miss Ingram setzte sich zur Rechten ihres Führers; die übrigen Ratenden nahmen die Stühle zu beiden Seiten des Paars. Ich beachtete die Schauspieler nicht mehr, wartete nicht mehr interessiert darauf, dass der Vorhang sich heben möge. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Zuschauern in Anspruch genommen, meine Augen, die zuvor unverwandt auf den großen, gewölbten Bogen gerichtet gewesen waren, ruhten jetzt wie gebannt auf dem Halbkreis von
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