Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
zu ziehen, hatte sie anfangs einige sentimentale Lieder und Melodien zur Klavierbegleitung gesummt, dann war sie plötzlich aufgesprungen, hatte einen Roman aus ihrem Zimmer geholt und lag jetzt in hochmütiger Gleichgültigkeit auf einem Sofa hingestreckt und versuchte, sich die langsam hinschleichenden Stunden seiner Abwesenheit mit lesen zu vertreiben. Im Zimmer und im ganzen Haus herrschte Ruhe. Nur zuweilen drang ein fröhliches Lachen aus dem Billardzimmer bis zu uns herunter.
Es begann schon zu dämmern, die Glocke hatte bereits das Zeichen zum Ankleiden für die Dinnerstunde gegeben, als die kleine Adèle, welche neben mir auf einem Sitz in der Fenstervertiefung kniete, plötzlich fröhlich ausrief:
»Voilà Monsieur Rochester qui revient!«
Ich wandte mich um und sah, wie Miss Ingram mit der größten Eilfertigkeit von ihrem Sofa aufsprang. Auch dieÜbrigen blickten von ihren verschiedenen Beschäftigungen auf, denn im selben Augenblick wurden ein Knirschen von Rädern und das Platschen von Hufen auf dem durchweichten Kiesweg vor dem Haus hörbar. Eine Postkutsche fuhr vor.
»Was mag ihm nur eingefallen sein, auf diese Weise nach Hause zu kommen!«, sagte Miss Ingram. »Er ritt Mesrour, den Rappen, nicht wahr? Und Pilot war doch bei ihm, als er fortritt? Was kann er mit den Tieren angefangen haben?«
Indem sie dies sagte, kam sie mit ihrer hohen Gestalt und ihrer ungeheuren Kleiderfülle dem Fenster so nahe, dass ich mich weit zurücklehnen musste und fast das Rückgrat gebrochen hätte. In ihrer Aufgeregtheit bemerkte sie mich im ersten Augenblick fast gar nicht, und als ihr Blick denn doch auf mich fiel, verzog sie die Lippen höhnisch und wandte sich einem anderen Fenster zu.
Die Postkutsche hielt an. Der Kutscher zog die Glocke zur großen Eingangstür, und ein Herr in Reisekleidern entstieg dem Gefährt. Aber es war nicht Mr. Rochester, sondern ein großer, schlanker, elegant aussehender Mann, ein Fremder.
»Wie ärgerlich!«, rief Blanche Ingram aus. »Du langweiliger Affe«, dies galt Adèle, »wer hat dich dort an das Fenster gesetzt, damit du falschen Alarm gibst?« Und bei diesen Worten warf sie mir einen zornigen Blick zu, als wäre ich die Schuldige gewesen.
Jetzt wurde draußen in der Halle ein kurzes Gespräch hörbar, und gleich darauf trat der Fremde ein. Er verbeugte sich tief vor Lady Ingram, die er wahrscheinlich für die älteste der anwesenden Damen hielt.
»Es scheint, Madam, dass ich zu sehr ungelegener Zeit komme«, sagte er, »denn mein Freund Rochester ist nicht zu Hause. Aber ich komme von einer sehr langen und ermüdenden Reise, und daher darf ich wohl die Rechte einersehr alten und intimen Freundschaft geltend machen und mich hier bis zur Rückkehr meines Freundes niederlassen.«
Er war von ausgesuchter Höflichkeit, sein Akzent schien mir indessen etwas fremdartig – nicht gerade ausländisch, aber auch nicht entschieden englisch. Er mochte ungefähr so alt sein wie Mr. Rochester, zwischen dreißig und vierzig. Seine Gesichtsfarbe war seltsam fahl, sonst war er aber ein schöner Mann, besonders auf den ersten Blick. Bei näherer Prüfung entdeckte man in seinem Gesicht allerdings etwas, das abstieß, oder vielmehr etwas, das nicht gerade gefiel. Seine Züge waren regelmäßig, aber zu schlaff; seine Augen waren groß und schön geschnitten, aber man las darin, dass er ein nutzloses, leeres, unbedeutendes Leben geführt hatte. Wenigstens erschien es mir so.
Der Ton der Ankleideglocke zerstreute die Gesellschaft. Erst nach dem Dinner sah ich den Fremden wieder. Um diese Zeit schien er sich bereits ganz heimisch zu fühlen. Aber jetzt gefiel mir seine Physiognomie noch weniger als zuvor; sie war zugleich unruhig und doch leblos. Seine Blicke wanderten umher, aber man fühlte, dass sie nichts suchten. Das gab ihm einen so seltsamen Ausdruck, wie ich ihn noch niemals im Gesicht eines Menschen beobachtet hatte. Für einen schönen und nicht unliebenswürdigen Mann fand ich ihn merkwürdig abstoßend. Dieses glatte, oval geformte Gesicht übte keine Macht aus, in jener schmalen, gebogenen Nase, in dem kleinen Kirschenmund lag keine Kraft. Die niedrige, ungefurchte Stirn verriet keine Gedanken; das glänzende, braune Auge verstand nicht zu herrschen.
Als ich in meinem gewohnten Winkel saß und ihn im Schein der Leuchter, der vom Kaminsims hell auf ihn herabschien, betrachtete – er saß in einem Lehnstuhl, den er dicht an das wärmende Feuer gezogen hatte, und er schien
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