Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Probemonat war dahin, seine letzten Stunden waren gezählt. Der schnell herannahende Tag meiner Hochzeit konnte nicht mehr aufgeschoben werden, und alle Vorbereitungen waren getroffen. Ich wenigstens hatte nichts mehr zu tun; an der Wand meines kleinen Zimmers standen meine Koffer, gepackt, verschlossen, geschnürt, alle in einer Reihe. Morgen um diese Zeit würden sie schon auf dem Weg nach London sein, und ebenso ich, oder eigentlich nicht ich, sondern eine gewisse Jane Rochester – eine Person, welche ich bis jetzt noch nicht kannte. Es blieb nur noch übrig, dem Gepäck die Karten mit den Adressen anzuheften – dort lagen sie auf der Kommode, vier kleine, weiße Vierecke. Mr. Rochester selbst hatte Namen und Bestimmungsort darauf geschrieben: »Mrs. Rochester, *** Hotel, London«, aber ich konnte mich nicht entschließen, sie zu befestigen oder befestigen zu lassen. Mrs. Rochester! Sie existierte ja nicht, sie sollte ja erst morgen das Licht der Welt erblicken, kurz nach acht Uhr, und ich wollte warten, bis ich sicher war, dass sie lebendig zur Welt gekommen ist, bevor ich ihr meinen ganzen Besitz verschrieb. Es war schon genug, dass in jener kleinen Kammer gegenüber dem Toilettentisch verschiedene Kleider, welche angeblich ihr gehörten, meine schwarzen, wollenenLowood-Kleider verdrängt hatten: Denn nicht mir gehörten jenes prachtvolle Hochzeitsgewand, das perlgraue Kleid und der luftige Schleier. Ich schloss das Kämmerchen zu, um den seltsamen, gespenstischen Schmuck, welchen es enthielt, meinen Blicken zu entziehen, denn er warf zu dieser Stunde – es war neun Uhr abends – einen geisterhaften Schimmer zwischen die Schatten meines Zimmers.
»Ich will dich allein lassen, du weißer Traum«, sagte ich. »Ich habe Fieber, ich höre den Wind heulen – ich will hinausgehen, um ihn meine heißen Schläfen kühlen zu lassen.«
Es war nicht allein die Eile der Vorbereitungen, die mich fiebern machte, nicht allein das Vorgefühl der großen Veränderung, des neuen Lebens, welches morgen beginnen sollte. Ohne Zweifel hatten diese beiden Umstände ihren Anteil an der aufgeregten, ruhelosen Stimmung, die mich zu dieser späten Stunde noch in den dunkelnden Park hinaustrieb, aber noch eine dritte Ursache beeinflusste mein Gemüt weit mehr als jene anderen beiden.
Ein seltsamer, beängstigender Gedanke fraß mir am Herzen. Es war etwas geschehen, das mir unverständlich, unbegreiflich war. Außer mir hatte es niemand gesehen und niemand hatte davon gehört. Es hatte sich am vorangegangenen Abend zugetragen. Mr. Rochester war an jenem Abend vom Hause abwesend, und er war auch jetzt noch nicht zurückgekehrt. Er war in Geschäftsangelegenheiten zu einigen kleinen Pachthöfen, die ungefähr dreißig Meilen von Thornfield entfernt lagen, gerufen worden; Geschäftsangelegenheiten, die er durchaus noch persönlich vor seiner beabsichtigten Abreise von England ordnen musste. Jetzt wartete ich auf seine Rückkehr, ich sehnte mich danach, ihm mein Herz auszuschütten und von ihm die Lösung des Rätsels zu erhalten, das mich verblüffte und beunruhigte. – Warte, bis er kommt, mein Leser; und wenn ich ihm mein Geheimnis enthülle, werde ich dich mit ins Vertrauen ziehen.
Ich suchte den Obstgarten auf. Der Wind, welcher während des ganzen Tages voll und scharf aus Süden geweht hatte, trieb mich in den Schutz der Bäume. Kein Regentropfen war gefallen. Anstatt sich beim Herannahen der Nacht zu legen, schien der Wind nun stärker zu heulen, heftiger zu rasen. Die Bäume neigten sich alle nach einer Seite, sie vermochten kaum, sich während des Verlaufes einer ganzen Stunde auch nur einmal aufzurichten – so unausgesetzt war der Wind, der ihre belaubten Wipfel nordwärts beugte und große Massen von Wolken von Pol zu Pol jagte. An diesem Julitag war nicht ein einziger Sonnenstrahl auf die Erde gefallen, und das Auge hatte kein einziges Fleckchen Himmelsblau gesehen.
Ich ließ mich nicht ohne ein gewisses Behagen vom Wind treiben und übergab meine Sorgen dem maßlosen Luftstrom, welcher durch den Raum tobte. Als ich den Lorbeerweg hinunterging, stand ich plötzlich vor dem zerstörten Kastanienbaum. Hier stand er, schwarz und gespalten. Der Stamm hatte mit seiner zerschmetterten Hälfte etwas Geisterhaftes. Die auseinandergesplitterten Teile hingen noch immer zusammen, die feste Erde, die starken Wurzeln hielten sie, obgleich die Gemeinsamkeit der Lebenskraft längst zerstört war. Die Säfte konnten nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher