Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
dergleichen kann man von ihr sehr wohl erwarten. Ich sehe dir an, dass du fragen möchtest, weshalb ich ein solches Geschöpf im Haus behalte. Wenn wir Jahr und Tag verheiratet sind, dann werde ich es dir erzählen, jetzt aber noch nicht. Bist du’s zufrieden, Jane? Genügt dir meine Erklärung des Geheimnisses?«
Ich dachte einige Augenblicke nach, und dann erschien mir seine Deutung wirklich als die einzig mögliche. Ich fühlte mich immerhin beruhigt und bestätigte ihm das durch ein freundliches Lächeln. Ganz überzeugt war ich zwar noch immer nicht, aber ihm zuliebe tat ich, als wäre ich es. Und da ein Uhr jetzt längst vorüber war, rüstete ich mich, ihn zu verlassen.
»Schläft Sophie nicht mit Adèle im Kinderzimmer?«, fragte er, als ich meine Kerze anzündete.
»Ja, Sir.«
»Für dich ist in Adèles kleinem Bett noch Platz genug – diese Nacht musst du es mit ihr teilen, Jane. Es ist kein Wunder, dass der Vorfall, den du mir berichtet hast, dich nervös gemacht hat, und es wäre mir lieber, wenn du nicht allein schliefest. Versprich mir, dass du ins Kinderzimmer gehst!«
»Liebend gerne, Sir.«
»Und verschließe die Tür sorgsam und sicher von innen. Wecke Sophie, wenn du nach oben gehst, unter dem Vorwand, dass du sie bittest, dich morgen früh zeitig zu wecken. Denn du musst vor acht Uhr angekleidet sein und gefrühstückt haben. Und nun keine trüben Gedanken mehr,verscheuche die albernen Sorgen, Janet! Hörst du, wie der Sturm sich gelegt hat und der Wind nur noch zärtlich und leise flüstert? Kein strömender Regen schlägt mehr gegen die Fensterscheiben, blick nur hinaus …«, hier zog er den Vorhang zurück, »… es ist eine liebliche Nacht geworden!«
Es war wirklich eine liebliche Nacht: Die Hälfte des Himmels war klar und makellos. Die Wolken, welche der Wind vor sich hertrieb, zogen in langen, silbernen Kolonnen nach Osten. Friedlich schien der Mond auf die schlummernde Erde herab.
»Nun?«, sagte Mr. Rochester, indem er mir fragend in die Augen blickte, »wie fühlt meine Janet sich jetzt?«
»Die Nacht ist still und ungetrübt, Sir, und ich bin es jetzt ebenfalls.«
»Und du wirst heute nicht wieder von Trennung und Trübsal träumen, sondern nur von glücklicher Liebe und seliger Vereinigung.«
Diese Weissagung ging nur zur Hälfte in Erfüllung. Mir träumte nicht von Trennung und Trübsal, aber auch ebenso wenig von Freude, denn ich schlief überhaupt nicht. Ich hielt die kleine Adèle in den Armen und bewachte ihren glücklichen Kinderschlummer, der so ruhig, so leidenschaftslos und so unschuldig war – so erwartete ich den neuen Tag. Das Leben pulsierte mächtig in meinen Adern, und als die Sonne aufging, erhob auch ich mich. Ich erinnerte mich, wie fest Adèle sich an mich klammerte, als ich mich losmachen wollte. Ich erinnere mich noch, wie ich sie küsste, als ich ihre kleinen Händchen, die meinen Nacken umfasst hielten, löste. Eine seltsame Rührung übermannte mich, ich brach in Tränen aus und musste mich von ihrem Lager fortschleichen aus Furcht, dass mein Schluchzen sie wecken könnte. Sie war das Sinnbild meines ganzen bisherigen Lebens, und er, dem zu begegnen ich mich jetzt festlich schmückte, war der gefürchtete, aber auch vergötterte Inbegriff meiner Zukunft.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Um sieben Uhr kam Sophie, um mich anzukleiden. Es dauerte jedoch geraume Zeit, bevor sie ihre Aufgabe erledigt hatte; so lange, dass Mr. Rochester, welcher durch diese Verzögerung vermutlich ungeduldig geworden war, heraufsandte und fragen ließ, weshalb ich noch immer nicht käme. Sophie befestigte gerade meinen Schleier – schließlich hatte ich nun doch den einfachen Tüllschleier nehmen müssen – mit einer wertvollen Nadel. Sobald es mir möglich war, entschlüpfte ich ihren Händen, um hinunterzueilen.
»Halt!«, rief sie auf Französisch. »Sehen Sie sich doch im Spiegel an: Sie haben nicht einen einzigen Blick hineingeworfen!«
Ich wandte mich also noch in der Tür um. Im Spiegel sah ich eine Fremde, denn jene weißgekleidete, verschleierte Gestalt konnte unmöglich mein kleines Selbst sein.
»Jane!«, ertönte eine Stimme, und eilends lief ich hinunter. Am Fuße der Treppe empfing mich Mr. Rochester.
»Trödlerin«, sagte er, »ich weiß vor Ungeduld nicht, wo mir der Kopf steht, und du zögerst so lange!«
Er führte mich in das Speisezimmer, betrachtete mich prüfend von Kopf bis zu Fuß, nannte mich »so zart wie eine Lilie« und nicht allein
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