Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
hat niemand.«
»Du sagtest, dass er gar nicht mehr von uns gesprochen hat?«, fragte eine der jungen Damen.
»Er hatte keine Zeit mehr, Kindchen; er war in einer Minute hinüber, Ihr Vater. Ihm war nicht ganz wohl gewesen, wie schon tags zuvor, aber es hatte nichts zu bedeuten. Und als Mr. St. John ihn fragte, ob eine von Ihnen geholt werden solle, da lachte er ihm gerade ins Gesicht, ja, gerade ins Gesicht! Am nächsten Tag fing es dann wieder mit der Schwere im Kopfe an – das ist nun ja schon vierzehn Tage her –, und er fiel in Schlaf und wachte nicht mehr auf. Er war beinahe schon kalt, als Ihr Bruder zu ihm ins Zimmer kam und ihn fand. Ach Kinderchen, das war der Letzte von dem alten Stamm – denn Sie und Mr. St. John sind von einer anderen Sorte als die, die schon fort sind. Ihre Mutter hatte auch viel Ähnlichkeit mit Ihnen und war beinahe ebenso gelehrt. Sie sind ihr Ebenbild, Mary; Diana sieht ihrem armen Vater ähnlicher.«
Ich fand beide einander so ähnlich, dass ich nicht begreifen konnte, wo die alte Dienerin – denn jetzt begann ich, sie für eine solche zu halten – irgendeinen Unterschied zwischen ihnen fand. Beide hatten eine zarte Gesichtsfarbe und waren von schlanker Gestalt. Beider Gesichter waren klug und vornehm. Das Haar der einen war allerdings um einen Schatten dunkler, und sie trugen es verschieden geordnet: Marys hellbraune Locken waren gescheitelt und fielen zu beiden Seiten der Schläfen herab, Dianas dunklere Locken hingen in dichten Wogen über den Nacken.
Es schlug zehn Uhr. »Sie werden gewiss Ihr Abendbrot wollen«, bemerkte Hannah, »und Mr. St. John wird seines auch verlangen, wenn er nach Hause kommt.«
Und sie begann, die Mahlzeit vorzubereiten. Bis zu diesem Augenblick war ich so damit beschäftigt gewesen, sie zu beobachten, ihre Erscheinungen und ihre Unterhaltung hatten ein so reges Interesse in mir wachgerufen, dass ich meine eigene verzweifelte Lage fast vergessen hatte. Jetzt fiel sie mir wieder ein. Durch den Kontrast erschien sie mir trostloser und entsetzlicher als zuvor. Und wie unmöglich schien es mir, den Bewohnern dieses Hauses Teilnahme für mich einzuflößen, sie von der Wahrheit meiner Not und meines Jammers zu überzeugen, sie zu bewegen, dass sie mir eine kurze Rast unter ihrem Dache gewährten. Als ich mich an die Tür getastet hatte und zögernd anklopfte, fühlte ich, dass der letzte Gedanke eine reine Schimäre sei. Hannah öffnete.
»Was wollen Sie?«, fragte sie mit erstaunter Stimme, als sie mich beim Schein der Kerze, die sie in der Hand hielt, prüfend ansah.
»Darf ich mit Ihren Herrinnen sprechen?«, fragte ich.
»Sagen Sie mir nur lieber, was Sie von ihnen wollen. Woher kommen Sie denn eigentlich?«
»Ich bin hier fremd.«
»Was haben Sie denn um diese Stunde hier zu suchen?«
»Ich bitte um Nachtquartier in einem Stall oder sonst wo, und um ein Stückchen Brot.«
Misstrauen war auf Hannahs Gesicht zu lesen – gerade die Empfindung, welche ich am meisten fürchtete. »Ich will Ihnen ein Stück Brot geben«, sagte sie nach einer Pause, »aber wir können einer Landstreicherin kein Obdach geben. Das geht einfach nicht!«
»Lassen Sie mich bitte mit den Damen sprechen!«
»Nein, gewiss nicht. Was könnten die für Sie tun? Sie sollten um diese Zeit nicht mehr so umherlaufen. Das sieht sehr verdächtig aus!«
»Aber wohin soll ich gehen, wenn ich auch hier fortgejagt werde? Was soll ich nur beginnen?«
»Ach, ich wette, Sie wissen schon, wohin Sie zu gehen haben und was Sie zu tun haben. Nehmen Sie sich nur in Acht, dass Sie nichts Unrechtes tun! Hier ist ein Penny, und nun fort …«
»Einen Penny kann ich nicht essen, und ich habe keine Kraft weiterzugehen. Schließen Sie nicht die Tür, bitte – tun Sie’s nicht! Um Gottes willen!«
»Ich muss, der Regen kommt herein.«
»Sagen Sie den jungen Damen Bescheid. Lassen Sie mich zu ihnen!«
»Ganz gewiss nicht, nein! Sie sind nicht, was Sie vorgeben, sonst würden Sie nicht solchen Lärm machen. Gehen Sie!«
»Aber ich werde sterben, wenn ich fortgejagt werde!«
»Unsinn! Ich nehme an, dass Sie etwas Böses vorhaben. Wozu treiben Sie sich sonst um diese Zeit vor den Häusern anderer Leute herum? Wenn Sie vielleicht noch Helfershelfer haben, Einbrecher oder dergleichen, die hier in der Nähe versteckt sind, so sagen Sie denen nur, dass wir nicht allein im Hause sind. Wir haben einen Mann hier und Hunde und Flinten.« Mit diesen Worten schlug die ehrliche, aber unbeugsame
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