Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
flüsterten an meinem Bett:
»Ich bin froh, dass wir sie aufgenommen haben.«
»Ja. Wir hätten sie am nächsten Morgen zweifellos tot vor unserer Tür gefunden, wenn wir sie die ganze Nacht draußen gelassen hätten. Ich möchte nur wissen, was sie alles durchgemacht hat.«
»Eine ganz außergewöhnliche Notlage, denke ich. So ein armer, verhungerter, bleicher Wanderer!«
»Ich vermute, dass Sie keine ungebildete Person ist – nach ihrer Sprache zu urteilen. Ihr Akzent war sehr rein,und die Kleider, welche sie abgelegt hat, waren, wenn auch nass und schmutzig, so doch fein und wenig abgenutzt.«
»Sie hat ein eigentümliches Gesicht, obwohl es ausgemergelt und hager ist, gefällt es mir doch. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihre Züge in gesundem und fröhlichem Zustand recht nett sind.«
In all ihren Gesprächen hörte ich niemals auch nur eine einzige Silbe des Bedauerns über die Gastfreundschaft, welche sie mir gewährt hatten, oder ein Wort der Abneigung oder des Misstrauens gegen mich. Ich war also beruhigt.
Mr. St. John kam nur einmal. Er sah mich an und sagte, dass dieser Zustand der Lethargie die Folge übermäßiger und anhaltender Erschöpfung sei. Er erklärte es für unnötig, einen Arzt holen zu lassen; es sei seiner Überzeugung nach am besten, wenn man der Natur ihren freien Lauf ließe. Er sagte, jeder Nerv sei auf irgendeine Weise aufs Höchste angespannt, und dass das ganze System eine Zeitlang in einer Art Betäubung verharren müsse. Es sei durchaus keine Krankheit. Er glaube, dass meine Genesung, wenn sie einmal begonnen habe, eine sehr schnelle sein werde. Diese seine Ansichten sprach er in wenigen Worten aus, mit einer leisen, ruhigen Stimme. Und nach einer Pause fügte er im Ton eines Mannes, der wenig an erläuternde Bemerkungen gewöhnt ist, hinzu: »Eine ziemlich ungewöhnliche Physiognomie; ganz entschieden nicht vulgär oder depraviert.«
»Weit entfernt davon«, entgegnete Diana. »Ehrlich gesprochen, St. John – mein Herz zieht mich zu der armen, kleinen Seele. Ich wollte, dass wir ihr dauerhaft nützlich sein könnten.«
»Das ist kaum anzunehmen«, lautete seine Antwort. »Ihr werdet finden, dass sie ein junges Mädchen ist, welches einen Streit mit seinen Angehörigen gehabt und diese dann unvernünftigerweise verlassen hat. Vielleicht gelingt es uns, sie jenen wieder zuzuführen, wenn sie nicht allzu eigensinnigist. Aber ich sehe Linien in ihrem Gesicht, die auf Widerstandskraft schließen lassen und mich in Bezug auf ihre Lenksamkeit skeptisch machen.« Er stand und betrachtete mich für einige Zeit, dann fügte er hinzu: »Sie sieht klug aus, aber sie ist durchaus nicht hübsch.«
»Sie ist so krank, St. John.«
»Krank oder gesund, sie wird immer bescheiden aussehen: Um schön zu sein, fehlt es Ihren Zügen an Anmut und Harmonie.«
Am dritten Tag fühlte ich mich besser; am vierten konnte ich sprechen, mich bewegen, im Bett aufsetzen und mich umdrehen. Es war, wie ich vermutete, um die Mittagsstunde, als Hannah mir ein wenig Grütze und einige geröstete Brotscheiben brachte. Ich aß mit Appetit und die Speise war gut – ihr fehlte zum ersten Mal der fiebrige Beigeschmack, welcher bis dahin alles vergiftete, was ich gegessen hatte. Als Hannah mich verließ, fühlte ich mich neu belebt und verhältnismäßig stark, und bald darauf wurde ich der Ruhe müde und empfand den Wunsch nach Bewegung, nach Tätigkeit. Ich wollte aufstehen – aber welche Kleider sollte ich anlegen? Meine feuchten, verschmutzten Gewänder, in welchen ich auf dem Erdboden geschlafen hatte und im Moor gestürzt war? Ich schämte mich, in solcher Kleidung vor meinen Wohltätern zu erscheinen, aber diese Demütigung blieb mir erspart.
Auf einem Stuhl neben meinem Bett lagen all meine eigenen Kleidungsstücke sauber und trocken. Mein schwarzseidener Rock hing an der Wand. Die Spuren des Schlammes waren davon entfernt, die Falten, welche durch die Nässe entstanden waren, waren geglättet: Alles sah durchaus anständig aus. Sogar meine Schuhe und Strümpfe waren gereinigt und wieder brauchbar gemacht. Es gab eine Waschmöglichkeit im Zimmer, und ich fand Kamm und Bürste, um mein Haar zu ordnen. Unter großer Mühe, da ich mich alle Augenblicke ausruhen musste, gelang es mir schließlich,mich anzukleiden. Meine Kleider hingen lose an mir herunter, denn ich war sehr abgemagert. Ich versuchte, diesen Makel mit einem Schal zu kaschieren. Endlich wieder sauber und anständig aussehend –
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