Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
und wären verletzt gewesen. Ich meine nur, dass menschliche Zuneigung und Liebe große Macht über Sie haben. Ich bin überzeugt, dass es Ihnen nicht für lange genügen wird, Ihre freie Zeit in Einsamkeit zuzubringen und Ihre Arbeitsstunden einer einförmigen Arbeit zu widmen, welche durchaus jeden Reizes entbehrt – ebenso wenig wie ich zufrieden sein kann …«, fügte er mit Emphase hinzu, »… hier im Morast begraben, von Bergen eingeengt zu leben. Meine Natur, die Gott mir gegeben hat, sträubt sich dagegen; meine Fähigkeiten, mir vom Himmel geschenkt, werden gelähmt und liegen nutzlos da. Sie hören jetzt, wie ich mir selbst widerspreche. Ich, der ich Zufriedenheit mit einem bescheidenen Los predige und sogar den Beruf eines Holzfällers, eines Wasserschöpfers im Dienste Gottes rechtfertige – ich, sein gesalbter Bote, ich tobe beinahe in meiner Rastlosigkeit. Nun, auf irgendeine Weise müssen angeborene Neigung und Grundsätze miteinander versöhnt werden.«
Er verließ das Zimmer. In dieser kurzen Stunde hatte ich ihn besser kennengelernt als im ganzen vorhergehenden Monat, und doch zerbrach ich mir noch den Kopf über ihn.
Diana und Mary Rivers wurden immer stiller und schweigsamer, je näher der Tag kam, an dem sie ihren Bruder und ihr Heim verlassen sollten. Beide versuchten, nicht anders zu erscheinen als gewöhnlich. Aber der Kummer, gegen welchen sie zu kämpfen hatten, konnte weder leicht besiegt noch verheimlicht werden. Diana deutete an, dass dies eine Trennung sein würde, sehr verschieden von jeder bisherigen. Was St. John anbetraf, so würde es wahrscheinlich ein Abschied für lange Jahre sein, vielleicht sogar eine Trennung fürs Leben.
»Er wird alles seinen längst gefassten Entschlüssen opfern«, sagte sie, »die Bande der Natur und noch viel mächtigere Gefühle. St. John sieht ruhig aus, Jane, aber in seinem Inneren tobt ein brennendes, verzehrendes Fieber. Du hältst ihn für sanft und milde, doch er ist in manchen Dingen unerbittlich wie der Tod. Und was das Schlimmste ist: Mein Gewissen erlaubt mir kaum, ihm von seinen strengen Entschlüssen abzuraten, denn wahrhaftig, ich kann ihn nicht einen Augenblick dafür tadeln. Es ist rechtens, edel und christlich – und dennoch bricht es mir das Herz!« Tränen standen in ihren schönen Augen. Mary neigte den Kopf tief über ihre Arbeit.
»Wir haben jetzt keinen Vater mehr; bald werden wir auch kein Heim und keinen Bruder mehr haben«, sagte sie leise.
In diesem Augenblick geschah etwas, das vom Schicksal eigens dazu bestimmt schien, die Wahrheit des alten Spruches ›Ein Unglück kommt selten allein‹ zu beweisen und diesem noch die ärgerliche Weisheit hinzuzufügen, dass, wenn man auch glaubt, das Maß des Kummers sei voll, doch immer noch ein Quäntchen mehr hinzukommen mag. St. John ging, einen Brief lesend, am Fenster vorüber. Dann trat er ein.
»Unser Onkel John ist tot«, sagte er.
Beide Schwestern waren betroffen, aber nicht erschrockenoder entsetzt. Die Nachricht schien ihnen eher bedeutsam als betrüblich zu sein.
»Tot?«, wiederholte Diana.
»Ja.«
Sie heftete einen prüfenden Blick auf das Gesicht ihres Bruders. »Und was jetzt?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Und was jetzt, Di?«, wiederholte er, die marmorne Ruhe des Gesichtsausdrucks bewahrend. »Was jetzt? Nun – nichts! Lies!«
Er warf ihr den Brief in den Schoß. Sie überflog ihn schnell und reichte ihn dann Mary. Mary las ihn schweigend und gab ihn darauf dem Bruder zurück. Alle drei blickten einander an, und alle drei lächelten – es war ein trauriges, nachdenkliches Lächeln.
»Amen! Wir werden schon weiterleben«, sagte Diana endlich.
»Auf jeden Fall wird unsere Lage nicht schlimmer, als sie vorher war«, bemerkte Mary.
»Es führt der Seele ein Bild davon vor, was
hätte sein können
«, sagte Mr. Rivers, »und zeigt nur zu deutlich den Unterschied zu dem, was in Wirklichkeit
ist
.«
Er faltete den Brief zusammen, verschloss ihn in seinem Pult und ging wieder hinaus.
Während einiger Minuten sprach niemand. Dann wandte sich Diana zu mir.
»Jane, du wirst dich über uns und unsere Geheimnisse wundern«, sagte sie, »und uns für hartherzige Geschöpfe halten, weil wir über den Tod eines so nahen Verwandten, wie ein Onkel es ist, nicht mehr Betrübnis an den Tag legen. Aber wir haben ihn niemals gekannt noch gesehen. Er war der Bruder meiner Mutter. Vor langen Jahren hatten er und mein Vater einen Streit und entzweiten sich. Es
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