Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Sie den Platz, welchen ich Ihnen anbieten will, annehmen werden«, sagte er, »und ihn auch wenigstens für eine Zeitlang behalten werden, wenn auch nicht für immer. Ebenso wenig könnte ich das enge und beengende,stille, verborgene Amt eines englischen Landpfarrers für immer ausfüllen. In Ihrer wie in meiner Natur liegt etwas, das der Ruhe widerstrebt, wenn es auch unterschiedlicher Art ist.«
»Bitte erklären Sie mir dies«, drängte ich, als er wiederum innehielt.
»Das will ich, und Sie werden hören, wie armselig das Anerbieten ist – wie klein – wie knapp. Jetzt, wo mein Vater tot ist und ich mein eigener Herr bin, werde ich nicht mehr lange in Morton bleiben; wahrscheinlich werde ich es nach Ablauf eines Jahres verlassen. Aber so lange ich dort bleibe, werde ich meine Kräfte bis aufs Äußerste anspannen, um diesen Ort zu fördern und zu verbessern. Als ich vor zwei Jahren nach Morton kam, gab es keine Schule; die Kinder der Armen waren von jeder Hoffnung auf Emporkommen ausgeschlossen. Ich gründete also eine Schule für Knaben; jetzt beabsichtige ich, eine zweite für Mädchen zu eröffnen. Ich habe zu diesem Zweck ein Gebäude gemietet und ein dazugehöriges Häuschen mit zwei Zimmern, welches der Lehrerin als Wohnung dienen soll. Ihr Gehalt wird dreißig Pfund im Jahr betragen, und ihr Haus ist bereits eingerichtet – sehr einfach, aber ausreichend – durch die Güte einer Dame, Miss Oliver. Diese ist die einzige Tochter des einzigen reichen Mannes in meiner Gemeinde, Mr. Oliver, welcher Besitzer einer Nähnadelfabrik, eines Hochofens und einer Eisengießerei unten im Tal ist. Dieselbe Dame sorgt für die Erziehung und Kleidung eines Waisenmädchens aus dem Arbeitshause unter der Bedingung, dass sie der Lehrerin in jenen einfachen Arbeiten ihres Haushalts und in der Schule zur Hand geht, welche selbst zu verrichten das Amt des Lehrens sie hindert. Wollen Sie diese Lehrerin sein?«
Er stellte diese Frage sehr schnell, sehr überstürzt. Er schien halb und halb eine empörte oder wenigstens doch eine verächtliche Zurückweisung dieses Anerbietens zu erwarten. Da er meine Gedanken und Empfindungen nichtkannte, wenn er auch einige derselben erriet, so konnte er unmöglich wissen, in welchem Licht dieses Los mir erscheinen würde.
In der Tat, es war bescheiden – aber es war sicher, und ich brauchte vor allen Dingen ein geschütztes Asyl. Es war mühevoll und anstrengend – aber im Vergleich mit dem Los einer Gouvernante in einem reichen Haus war es doch immerhin unabhängig. Und die Furcht vor Abhängigkeit von fremden Leuten folterte meine Seele wie glühendes Eisen. Es war nicht unedel, nicht unwürdig, nicht geistig erniedrigend – ich fasste meinen Entschluss.
»Ich danke Ihnen für den Vorschlag, Mr. Rivers, und ich nehme ihn von ganzem Herzen an.«
»Aber Sie verstehen mich?«, sagte er. »Es ist eine Dorfschule, ihre Schülerinnen werden nur arme Mädchen sein – Kinder von Tagelöhnern, im besten Falle Kinder von Pächtern. Stricken, Nähen, Lesen, Schreiben, Rechnen – das wird alles sein, was Sie zu lehren haben. Was werden Sie mit Ihren Talenten anfangen? Was mit der großen Tiefe Ihres Gemüts, Ihren Empfindungen, Ihrem Geschmack?«
»Sie aufbewahren, bis sie gebraucht werden. Die halten sich schon.«
»Sie wissen also, was Sie unternehmen?«
»Ich weiß es.«
Jetzt lächelte er; nicht ein bitteres oder trauriges Lächeln, sondern ein freundliches, zufriedenes.
»Und wann wollen Sie mit der Ausübung Ihrer Pflichten beginnen?«
»Ich will schon morgen in die mir angewiesene Wohnung ziehen und Anfang der nächsten Woche die Schule eröffnen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Gut. So sei es.«
Er erhob sich und ging durchs Zimmer. Dann stand er still, blickte mich wiederum an und schüttelte den Kopf.
»Was missbilligen Sie, Mr. Rivers?«, fragte ich.
»Sie werden nicht lange in Morton bleiben, nein, nein.«
»Weshalb? Welchen Grund haben Sie, das zu sagen?«
»Ich lese es in Ihren Augen; sie versprechen keinen ebenen, ruhigen Lebensweg.«
»Ich bin nicht ehrgeizig.«
Bei dem Wort »ehrgeizig« fuhr er zusammen. Dann wiederholte er: »Nein. Was ließ Sie an Ehrgeiz denken? Wer ist ehrgeizig? Ich weiß, dass ich es bin. Aber wie haben Sie das entdeckt?«
»Ich sprach nur von mir selbst.«
»Nun, wenn Sie nicht ehrgeizig sind, so sind Sie …«, hier hielt er inne.
»Was?«
»Ich wollte sagen ›leidenschaftlich‹, aber vielleicht hätten Sie das Wort missverstanden
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