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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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seine Papiere vor sich, konnte er mit dem Lesen oder Schreiben innehalten, das Kinn in die Hand stützen und sich Gott weiß welchen Gedanken hingeben. Dass diese jedoch aufregend und unruhig sein mussten, konnte man an dem häufigen Aufblitzen seiner Augen sehen.
    Überdies glaube ich nicht, dass die Natur ihm so viele Quellen der Wonne und des Entzückens bot, wie seinen Schwestern. Nur einmal, nur ein einziges Mal sprach er in meiner Gegenwart über den wunderbaren Reiz, welchen diese rauen, schroffen Hügel auch auf ihn ausübten, und über die angeborene Liebe für das düstere Dach und die bemoosten Mauern, die er sein Heim nannte. Aber in seinen Worten lag mehr herbe Trauer als sich mit dem Gefühl vertrug, dem er Ausdruck verlieh. Auch schien es mir stets, als durchstreife er Heide und Moor nicht um ihrer beruhigenden, tröstenden Stille und Einsamkeit willen – als suche er sie nicht auf für die Tausend friedlichen Freuden, die sie ihm doch hätten gewähren können.
    Da er wenig mitteilsam war, verging geraume Zeit, ehe ich Gelegenheit fand, sein Gemüt zu ergründen. Erst als ich ihn in seiner eigenen Kirche in Morton predigen hörte, bekam ich einen Begriff seiner Tiefe. Ich wollte, ich könnte jene Predigt beschreiben, aber das übersteigt meine Kraft. Ich vermag nicht einmal, den Eindruck getreu wiederzugeben, den sie auf mich machte.
    Die Predigt begann ruhig. Und sie blieb auch bis zum Ende ruhig, was Vortrag und Stimmlage anbetraf – aber ein tief empfundener, jedoch streng in den Grenzen gehaltener Eifer atmete bald aus jedem seiner deutlichen Worte, beflügelteseine Sprache und verlieh ihr eine ungeheure Macht. Das Herz ward erschüttert, und das Gemüt überwältigt durch die Kraft des Predigers – der Zuhörer fand keine Besänftigung, keine Ruhe. Das Ganze durchwehte eine seltsame Bitterkeit, ein Mangel an tröstender Sanftmut: Starre Mahnungen an kalvinistische Glaubenssätze – Berufung, Gnadenwahl, ewige Verdammnis – kehrten immer wieder, und jede Bezugnahme auf diese Punkte klang wie ein Urteilsspruch. Als er zu Ende war, empfand ich eine unbeschreibliche Traurigkeit, anstatt mich durch seine Rede besser, ruhiger, aufgeklärter zu fühlen. Es schien mir – und ich weiß nicht, ob andere dasselbe empfanden –, als ob die Beredsamkeit, welcher ich gelauscht hatte, einer Tiefe entsprang, wo der trübe Bodensatz der Enttäuschung lagerte, wo qualvolle Impulse ungestillten Sehnens und beunruhigenden Strebens tobten. Ich war überzeugt, dass St. John Rivers – rein, gewissenhaft und eifrig, wie er war – doch noch nicht jenen göttlichen Frieden gefunden hatte, welcher über alle Vernunft geht. Er hatte ihn ebenso wenig gefunden, dachte ich, wie ich selbst mit meinem geheimen, quälenden Gram um mein zerstörtes Ideal, mein verlorenes Paradies – Gram, von dem ich in letzter Zeit nicht mehr gesprochen hatte, der mich aber dennoch gänzlich gefangen hielt und mich schonungslos beherrschte.
    Inzwischen war ein Monat vergangen. Diana und Mary sollten Moor House bald wieder verlassen und zu dem sehr anderen Leben und Treiben zurückkehren, welches ihrer als Gouvernanten in einer großen, modernen Stadt im Süden Englands harrte; wo sie Stellen in Familien innehatten, deren hochmütige, reiche Mitglieder sie nur als bescheidene Dienerinnen betrachteten, keine ihrer ausgezeichneten Eigenschaften suchten oder kannten und ihre hervorragenden Fähigkeiten nur so zu schätzen wussten, wie sie die Geschicklichkeit ihres Kochs oder den guten Geschmack ihrer Kammerfrauen zu würdigen verstanden.
    Mr. St. John hatte noch nicht eine Silbe mit mir über die Stellung gesprochen, welche er mir zu verschaffen gelobt hatte, und doch wurde es jetzt dringend nötig, dass ich eine Tätigkeit irgendeiner Art erwählte. Als ich eines Morgens mit ihm allein war, fasste ich den Mut, mich der Fenstervertiefung des Wohnzimmers zu nähern, welche durch seinen Tisch, sein Schreibpult und seinen Stuhl eine Art von Studierzimmer bildete. Ich war gerade im Begriff zu sprechen – obgleich ich noch nicht recht wusste, in welche Worte ich meine Frage kleiden sollte, denn es ist immer schwierig, das Eis der Zurückhaltung zu brechen, in welches Naturen wie die seine sich zu hüllen pflegen –, als er mich der Mühe enthob, indem er derjenige war, welcher das Zwiegespräch begann.
    Als ich mich ihm näherte, blickte er auf und sagte: »Sie wollen eine Frage an mich richten?«
    »Ja. Ich möchte gern wissen, ob Sie bereits

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