Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
kämpfen, um über sie zu siegen. Morgen, so hoffe ich, werde ich derselben vollständig Herr werden, und in wenigen Wochen wird jegliche derartige Empfindung aus meinem Herzen verschwunden seien. Bestimmt tritt in wenigen Monaten schon Zufriedenheit an die Stelle des Widerwillens, wenn ich bei meinen Schülerinnen Fortschritte und eine Wendung zum Besseren wahrnehmen kann.
Inzwischen will ich eine Frage an mich richten: Was ist besser? Der Versuchung erlegen zu sein, der Leidenschaft Gehör geschenkt zu haben, keine qualvolle Anstrengung gemacht, keinen Kampf gekämpft zu haben? Stattdessen in eine seidene Schlinge geraten zu sein, zwischen den Blumen, welche diese bedeckten, einschlafen, um in einem südlichen Klima im Luxus einer Prachtvilla zu erwachen? In Frankreich als Mr. Rochesters Geliebte zu leben; wahnsinnig vor Liebe während eines Teils meines Daseins – denn für eine Spanne Zeit würde er mich geliebt haben, oh, ganz gewiss, er würde mich vergöttert haben! Er hatte mich
geliebt
– kein Mensch wird mich jemals lieben, wie er es tat. Ich werde niemals wieder die süße Huldigung empfinden, die der Schönheit, der Jugend und der Anmut gezollt wird – denn für keines anderen Augen werde ich jemals wieder mit diesen Reizen ausgestattet erscheinen. Er war verliebt inmich, und er war stolz auf mich – kein Mann wird das wieder sein! Aber wohin wandern meine Gedanken und was sage ich? Vor allen Dingen: Was empfinde ich? Ist es besser, frage ich, die Sklavin im Paradies eines Toren in Marseille zu sein, vom Fieber der Seligkeit einer einzigen Stunde befallen zu sein, um in der nächsten schon von den bitteren Tränen erstickt zu werden, welche Scham und Gewissensbisse uns auspressen? Oder frei und ehrlich in einem frischen Gebirgswinkel im gesunden Herzen von England eine einfache Dorfschullehrerin zu sein?
Ja. Jetzt fühle ich, dass ich recht tat, als ich mich streng an Gesetz und Grundsätze hielt und die wahnsinnigen Einflüsterungen eines unseligen Augenblicks erstickte und vernichtete. Gott ließ mich die rechte Wahl treffen, ich danke der Vorsehung für ihre gütige Führung!
Als meine abendliche Grübelei an diesem Punkt angelangt war, ging ich an meine Tür und betrachtete den Sonnenuntergang des Herbsttages, die stillen Felder vor meiner Hütte, welche samt der Schule eine halbe Meile vom Dorf entfernt lag. Die Vögel sangen ihr letztes Lied:
»Mild war die Luft und süß der Tau.«
Als ich so hinausblickte, fühlte ich mich glücklich und war daher ganz erstaunt, mich dennoch gleich darauf in Tränen zu sehen – und weshalb? Um des Geschickes willen, das mich von der Seite meines Herrn und Meisters gerissen, von ihm, den ich in diesem Leben nicht wiedersehen würde; um des verzweifelten Kummers und der verhängnisvollen Wut willen – der Folgen meiner Flucht, welche ihn jetzt vielleicht vom rechten Weg abbrachten, zu weit, um noch auf eine letztendliche Umkehr hoffen zu dürfen. Bei diesem Gedanken wandte ich mein Gesicht ab von dem lieblichen Abendhimmel und dem einsamen Tal von Morton. Ich sage einsam, denn in jenem Teil desselben, der meinem Augesichtbar war, befand sich mit Ausnahme der Kirche und des Pfarrhofes nicht ein einziges Gebäude, und auch diese beiden waren fast gänzlich unter schattigen Bäumen versteckt. Weit hinaus am äußersten Ende erblickte man das Dach von Vale Hall, wo der reiche Mr. Oliver mit seiner Tochter wohnte. Ich legte die Hand über die Augen und lehnte meinen Kopf an die steinerne Umrahmung meiner Tür, aber bald ließ ein leises Geräusch an der Pforte, welche meinen kleinen Garten von der davorliegenden Wiese abschloss, mich wieder aufblicken. Ein Hund – der alte Carlo, Mr. Rivers’ Vorstehhund, wie ich auf den ersten Blick sah – stieß mit der Schnauze an das Tor, und Mr. St. John selbst lehnte mit verschränkten Armen darauf. Er runzelte die Stirn und sah mich mit ernstem, fast unwilligem Blick an.
Ich forderte ihn zum Eintreten auf.
»Nein, ich kann nicht bleiben. Ich bringe Ihnen hier nur ein kleines Paket, das meine Schwestern für Sie zurückgelassen haben. Ich glaube, es enthält einen Farbenkasten, Stifte und Papier.«
Ich ging zu ihm, um es entgegenzunehmen; es war eine willkommene Gabe. Als ich ihm näher kam, prüfte er, wie es schien, mein Gesicht mit Strenge; ohne Zweifel trug es noch die allzu deutlichen Spuren der eben vergossenen Tränen.
»Haben Sie die Arbeit Ihres ersten Tages schwerer gefunden, als Sie erwarteten?«,
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