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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
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plaudern. Ich wurde meiner stummen Bücher und leeren Zimmer endlich müde. Außerdem empfinde ich seit gestern die Neugier eines Menschen, dem eine Geschichte nur zur Hälfte erzählt worden ist und der nun mit Ungeduld das Ende derselben erwartet.«
    Er setzte sich. Ich erinnerte mich seines seltsamen Betragens von gestern und begann wirklich zu fürchten, dassseine Vernunft gelitten habe. Indessen, wenn er wahnsinnig sein sollte, so war sein Wahnsinn ein sehr stiller und harmloser. Niemals hatte sein schönes Gesicht einer vollendet gemeißelten Marmorbüste ähnlicher gesehen als gerade jetzt, da er sein durchnässtes Haar aus der Stirn strich und der Schein des Kaminfeuers auf seine bleiche Stirn und seine ebenso bleichen Wangen fiel – auf denen ich heute zum ersten Mal die Furchen und Linien entdeckte, welche Kummer und Sorge schon deutlich darauf gezogen hatten. Ich schwieg, immer erwartend, dass er irgendetwas mir Verständliches sagen würde. Aber jetzt hatte er das Kinn in die Hand gestützt und den Finger auf den Mund gelegt – er dachte nach. Es fiel mir auf, dass seine Hand ebenso bleich und abgezehrt war wie sein Gesicht. Ein ungekanntes und kaum gefordertes Gefühl des Erbarmens überkam mich; ich ließ mich hinreißen zu sagen: »Ich wollte, Diana und Mary kämen, um bei Ihnen zu leben. Es ist zu traurig, dass Sie so ganz allein sind, denn Sie nehmen gar keine Rücksicht auf Ihre Gesundheit.«
    »So ist es nicht. Wenn es nötig ist, sehe ich mich schon selbst ausreichend vor, und jetzt fühle ich mich ganz wohl. Was fällt Ihnen denn an meinem Aussehen auf?«
    Dies sagte er mit einer sorgen- und gedankenlosen Gleichgültigkeit, welche mir bewies, dass meine Bedenken überflüssig waren, zumindest in seinen Augen. Ich schwieg also.
    Er fuhr noch immer langsam mit dem Finger über seine Oberlippe, und noch immer hing sein Blick träumerisch an den glühenden Kohlen des Kamins. Da ich es für dringend notwendig hielt, irgendetwas zu sagen, so fragte ich ihn endlich, ob er kalten Zug von der Tür her verspüre, die hinter ihm lag.
    »Nein, nein …«, entgegnete er knapp, mit einem Anflug von Ärger.
    ›Gut‹, dachte ich, ›wenn Sie nicht reden mögen, soschweigen Sie. Ich werde mich nicht mehr um Sie kümmern, sondern zu meiner Lektüre zurückkehren.‹
    Ich beschnitt die Kerze und nahm meine Lektüre des »Marmion« wieder auf. Bald darauf machte er eine Bewegung, die unwillkürlich meinen Blick anzog. Er holte ein ledernes Notizbuch aus der Tasche und entnahm demselben einen Brief, den er schweigend durchlas, wieder zusammenfaltete und zurücklegte. Dann versank er erneut in Nachdenken. Es war sinnlos, mit einem so undurchdringlichen Wesen vor mir weiterzulesen. Und in meiner Ungeduld vermochte ich mich ebenso wenig stumm zu verhalten – er konnte mich ja zurückweisen, wenn er wollte, aber reden musste ich.
    »Haben Sie kürzlich von Diana und Mary gehört?«
    »Nichts seit jenem Brief, den ich Ihnen vor einer Woche zeigte.«
    »Und in Ihren eigenen Angelegenheiten hat sich auch nichts geändert? Werden Sie England nicht doch noch früher verlassen müssen, als Sie anfangs glaubten?«
    »Nein, in der Tat, ich fürchte, das wird nicht geschehen. Solch ein Glück wäre zu groß, als dass es mir zuteil werden könnte.«
    Hier war ich also wieder zurückgeschlagen. Ich wechselte das Thema und begann, von der Schule und meinen Schülerinnen zu sprechen.
    »Mary Garretts Mutter geht es besser, Mary kam heute Morgen wieder zur Schule. Und nächste Woche kommen vier neue Schülerinnen von der Gießerei; sie wären schon heute gekommen, wenn der Schneefall sie nicht zurückgehalten hätte.«
    »So?«
    »Mr. Oliver bezahlt für zwei.«
    »Wirklich!«
    »Und Weihnachten beabsichtigt er, der ganzen Schule ein Fest zu geben.«
    »Ich weiß.«
    »Geschieht es auf Ihren Vorschlag?«
    »Nein.«
    »Auf wessen denn?«
    »Auf Vorschlag seiner Tochter, glaube ich.«
    »Das sieht ihr ähnlich. Sie ist so gutmütig.«
    »Ja.«
    Wiederum entstand eine Pause. Die Uhr schlug achtmal. Das weckte ihn auf, er richtete sich empor und wandte sich zu mir.
    »Lassen Sie Ihr Buch einen Augenblick und rücken Sie näher ans Feuer«, sagte er.
    Mit endloser Verwunderung tat ich, was er verlangte.
    »Vor einer halben Stunde«, fuhr er fort, »sprach ich von meiner Ungeduld, die Fortsetzung einer Geschichte zu hören. Nach reiflicher Überlegung sehe ich ein, dass die Sache besser gehen wird, wenn ich die Rolle des Erzählers und

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