Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
erringen. So viel hat die Religion für mich getan. Sie hat die ursprünglichen Anlagen auf das Beste verwendet, sie hat die Natur gereift und veredelt. Aber sie konnte die Natur nicht ausrotten, und sie kann nicht ausgerottet werden, als bis dieser Sterbliche das Gewand der Unsterblichkeit anlegt.«
Nachdem er dies gesagt hatte, nahm er seinen Hut, welcher auf einem Tisch neben meiner Palette lag. Noch einmal blickte er das Porträt an.
»Sie ist wahrhaftig lieblich«, murmelte er. »Sie trägt ihren Namen ›Rose der Welt‹ mit Recht!«
»Und soll ich nicht ein zweites Porträt für Sie malen?«
» Cui bono
? – Nein!«
Und er zog den Bogen feinen Papiers, auf welchem meine Hand während des Malens ruhte, um den Karton nicht zu beschmutzen, über das Bild. Was er dann aber plötzlich auf diesem leeren Papier sah, ist mir unmöglich zu sagen, aber irgendetwas musste ihm aufgefallen sein. Er riss das Blatt an sich; er besah den Rand und warf dann einen sonderbaren Blick auf mich, unbeschreiblich seltsam und mir ganz unverständlich; einen Blick, der jeden Punkt meiner Gestalt, meines Gesichts, meiner Kleidung zu umfassen schien, denn er überfuhr mich schnell wie der Blitz. Seine Lippen öffneten sich, als wollte er sprechen, aber er unterdrückte den Satz – was immer es auch gewesen sein mochte.
»Was ist Ihnen?«, fragte ich.
»Nichts, durchaus gar nichts«, lautete die Antwort, und indem er das Papier auf das Bild zurücklegte, sah ich, wie er heimlich ein kleines Stück von dem Rand abriss. Es verschwandin seinem Handschuh, und mit einem heftigen Nicken und einem »Guten Abend!« verschwand er.
»Nun«, rief ich aus, »das übersteigt doch alles, was ich bis jetzt von ihm erlebt habe!«
Dann fing ich an, das Papier zu prüfen, aber ich konnte nichts darauf erblicken als einige matte Farbkleckse, wo ich meine Pinsel ausprobiert hatte. Ein oder zwei Minuten grübelte ich über das Geheimnis nach; da ich es aber unergründlich fand und auch überzeugt war, dass es nicht von großer Bedeutung sein könne, gab ich schließlich auf und vergaß es bald ganz und gar.
Dreiunddreißigstes Kapitel
Als Mr. St. John ging, begann es zu schneien. Ein Wirbelsturm tobte die ganze Nacht. Am nächsten Tage brachte ein scharfer Wind frischen, blendenden Schneefall; um die Dämmerungszeit war das Tal dann ganz verweht und fast unpassierbar geworden. Ich hatte die Fensterläden geschlossen, eine Matte vor die Tür gelegt, um zu verhindern, dass der Schnee hereinweht, und das Feuer geschürt. Nachdem ich beinahe eine Stunde am Kamin gesessen und dem dumpfen Toben des Sturms gelauscht hatte, zündete ich eine Kerze an, nahm »Marmion« vom Bücherbrett und begann zu lesen:
»Der Tag erstarb über den Burgen
An Nordhams steilen Küsten,
Und über dem Flusse Tweed, so schön, so breit und tief,
Und über Cheviots einsamen Bergen.
Die festen Türme, die massiven Mauern
Und die wehrhaften Wälle ringsum
Erstrahlten in goldgelbem Glanz …«
Über dieser Musik vergaß ich bald den Sturm.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich dachte, der Wind rüttle an der Tür, aber nein: Es war St. John Rivers, der die Türklinke drückte und durch den eisigen Orkan und die undurchdringliche Finsternis zu mir gekommen war. Er stand vor mir. Der Mantel, welcher seine hohe Gestalt einhüllte, war weiß und eisig wie ein Gletscher. Ich war fast bestürzt, so wenig hatte ich an diesem Abend einen Besucher aus dem verschneiten Dorf erwartet.
»Irgendwelche schlechten Nachrichten?«, fragte ich. »Ist irgendetwas geschehen?«
»Nein. Wie leicht Sie doch erschrecken!«, antwortete er. Er nahm seinen Mantel ab und hängte ihn an der Tür auf, um danach gelassen die schützende Matte wieder zurückzuschieben, die durch seinen Eintritt von ihrem Platz verschoben worden war. Dann stampfte er den Schnee von den Füßen.
»Ich werde die Reinheit Ihres Fußbodens zerstören«, sagte er, »aber dieses eine Mal müssen Sie mir verzeihen.« Er näherte sich dem Feuer. »Es war ein hartes Stück Arbeit, hierherzugelangen, das kann ich Ihnen versichern«, bemerkte er, während er seine Hände über dem Feuer wärmte. »Einmal geriet ich bis an die Brust in eine Schneewehe; glücklicherweise ist der Schnee aber noch ganz weich.«
»Aber weshalb kamen Sie denn?«, konnte ich nicht umhin zu fragen.
»Eine recht ungastliche Frage an einen Besucher, aber da Sie nun einmal fragen, antwortete ich Ihnen: ganz einfach, um ein wenig mit Ihnen zu
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