Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
gewesen? Hat niemand Mr. Rochester gesehen?«
»Vermutlich nicht.«
»Aber man hat ihm geschrieben?«
»Natürlich.«
»Und was sagte er? Wer hat seine Briefe?«
»Mr. Briggs deutete an, dass die Antwort auf seine Anfrage nicht von Mr. Rochester, sondern von einer Dame kam, welche mit ›Alice Fairfax‹ unterzeichnet hat.«
Mir wurde eiskalt, und ich fühlte einen stechenden Schmerz im Herzen. So waren meine ärgsten Befürchtungen also bestätigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er England verlassen und war an irgendeinen seiner früheren Aufenthaltsorte auf dem Kontinent geflüchtet. Und welches Opiat für seine schweren Leiden, welchen Gegenstand für seine stürmischen, verzehrenden Leidenschaften hatte er dort gefunden? Ich wagte nicht, mir diese Frage zu beantworten. Oh, mein armer Geliebter, einst fast schon mein Gatte! Er, den ich so oft ›mein lieber Edward‹ genannt hatte!
»Er muss ein schlechter Mensch gewesen sein«, bemerkte Mr. Rivers.
»Sie kennen ihn nicht – Sie dürfen auch keine Meinung über ihn aussprechen!«, entgegnete ich mit Leidenschaft.
»Meinetwegen«, sagte er ruhig, »und ich habe wahrlich auch andere Dinge im Kopf als ihn. Ich muss mit meiner Geschichte zu Ende kommen. Da Sie mich nicht nach dem Namen der Gouvernante fragen wollen, so muss ich Ihnen denselben aus eigenem Antrieb nennen. Warten Sie – ich habe ihn hier – es ist immer besser, wichtige Dinge schriftlich, fein säuberlich schwarz auf weiß zu haben.«
Und wieder nahm er ganz gelassen seine Brieftasche, öffnete sie und suchte etwas darin. Aus einer der kleinen Abteilungen zog er dann ein unscheinbares Stückchen Papier hervor, welches in Eile abgerissen zu sein schien. Ich erkannte an seiner Farbe und seinen ultramarinblauen und roten Flecken den geraubten Rand meines Blattes wieder. Er stand auf, hielt es mir dicht vor die Augen und ich las, in schwarzer Tusche von meiner eigenen Hand geschrieben, die Worte »JANE EYRE« – wahrscheinlich das Werk eines Augenblicks der Geistesabwesenheit.
»Briggs schrieb mir von einer Jane Eyre«, sagte er, »die Zeitungsnummern nannten eine Jane Eyre – ich kannte eine Jane Elliot. Ich muss gestehen, dass ich Argwohn, Vermutungenhegte, aber erst gestern Nachmittag wurden sie zur Gewissheit. Sie bekennen sich zu dem Namen und entsagen dem Alias?«
»Ja, ja – aber wo ist Mr. Briggs? Vielleicht weiß er mehr von Mr. Rochester?«
»Briggs ist in London. Ich bezweifle, dass er überhaupt irgendetwas von Mr. Rochester weiß; es ist nicht Mr. Rochester, für den er Interesse hat. Inzwischen vergessen Sie nämlich die Hauptsache, indem Sie Kleinigkeiten nachgehen: Sie fragen nicht, weshalb Mr. Briggs Sie suchte – was er von Ihnen wollte.«
»Nun, was wollte er?«
»Ihnen nur mitteilen, dass Ihr Onkel, Mr. Eyre auf Madeira, tot sei, dass er Ihnen sein ganzes Vermögen hinterlassen habe und dass Sie jetzt reich seien. Nur das, weiter nichts.«
»Ich? Reich?«
»Ja, Sie. Reich – eine richtige Erbin.«
Darauf entstand eine Pause.
»Natürlich müssen Sie Ihre Identität beweisen«, fuhr Mr. St. John nach längerem Schweigen fort, »ein Schritt, der indessen keine Schwierigkeiten bereitet. Dann können Sie den Besitz sofort antreten. Ihr Vermögen ist in englischen Papieren angelegt; Briggs hat das Testament und die nötigen Dokumente.«
So hatte sich das Blatt also mit einem Schlage gewendet! Es ist eine schöne Sache, mein lieber Leser, in einem kurzen Augenblick von Armut zu Reichtum emporgehoben zu werden – eine sehr schöne Sache, aber immerhin ein Ding, das man nicht in einem Moment begreifen und genießen kann. Und es gibt auch viel erschütterndere oder entzückendere Zufälle im Leben:
Dieses Ereignis
ist solide, eine Angelegenheit der Wirklichkeit. Nichts Ideales ist dabei; alles, was damit in Verbindung steht, ist fest und geschäftsmäßig, und die Wirkungen sind es ebenfalls. Manschreit und springt nicht, man ruft nicht hurra, wenn man erfährt, dass man ein Vermögen bekommen hat. Man fängt an, Verantwortungen in Erwägung zu ziehen und über Geschäftsangelegenheiten nachzudenken; auf der Basis ruhiger Zufriedenheit entstehen gewisse Sorgen, und wir sammeln uns und brüten mit feierlich ernster Stirn über den uns zuteil gewordenen Segen.
Überdies gehen die Worte »Vermächtnis« und »Erbe« Hand in Hand mit den Worten »Tod« und »Begräbnis«. Ich hatte gehört, dass mein Onkel, mein einziger Verwandter, tot sei. Von dem Augenblick an,
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