Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Lebewohl sagen möchte. Ungefähr vierzehn Tage werde ich vom Haus abwesend sein – überlege dir meinen Vorschlag in dieser Zeit. Und vergiss nicht: Wenn du ihn zurückweist, so verleugnest du nicht mich, sondern Gott. Ich bin nur das Werkzeug, durch welches er dir eine edle Lebenslaufbahn eröffnet, und nur als meine Gattin kannst du diese betreten. Weigerst du dich, meine Frau zu werden, so beschränkst du dich selbst für alle Zeit auf einen Pfad voll selbstsüchtiger Bequemlichkeit und leerer Dunkelheit. Zittere! Denn in diesem Fall zähltest du zu denen, die den Glauben verleugnet haben und schlimmer sind als die Ungläubigen.«
Jetzt war er zu Ende. Er wandte sich von mir ab, noch einmal zum Flusse, zu den Höhen blickend.
Aber jetzt hielt er seine Empfindung fest in seinem Herzen verschlossen: Ich war nicht mehr würdig, sie zu vernehmen. Als ich an seiner Seite heimwärts ging, las ich in seiner steinernen Ruhe, seinem eisigen Schweigen alles, was er gegen mich empfand: die Enttäuschung einer harten, despotischen Natur, welche auf Widerstand gestoßen ist, wo sie Unterwerfung erwartet hatte; die Missbilligungeiner kalten, unbeugsamen Vernunft, welche in einem anderen Gefühle und Anschauungen entdeckt hat, mit denen sie nicht fähig ist zu sympathisieren. Kurzum, als Mann hatte er gewünscht, mich zum Gehorsam zu zwingen, und nur als eifriger Christ ertrug er meinen Eigensinn so geduldig und gab mir eine so lange Zeit zum Nachdenken und zur Reue.
Als er an diesem Abend vor dem Schlafengehen seine Schwestern geküsst hatte, hielt er es für angemessen, sogar den Händedruck mit mir zu vergessen und verließ schweigend das Zimmer. Ich, die ich, wenn auch keine Liebe, so doch innige Freundschaft für ihn hegte, fühlte mich durch diese Unterlassung verletzt, so tief verletzt, dass mir die Tränen in die Augen traten.
»Jane, ich sehe, dass du dich mit St. John während eures Spazierganges auf dem Moor gezankt hast«, sagte Diana. »Geh ihm nach, er weilt jetzt noch im Korridor und wartet auf dich – er will sich wieder mit dir versöhnen.«
Unter solchen Umständen besitze ich nur wenig Stolz; ich möchte immer viel lieber glücklich und zufrieden als würdevoll sein. Und deshalb lief ich ihm nach – er stand am Fuß der Treppe zum oberen Stockwerk.
»Gute Nacht, St. John«, sagte ich.
»Gute Nacht, Jane«, entgegnete er ruhig.
»Geben wir uns die Hand«, fügte ich hinzu.
Welch einen kalten, leichten Druck fühlte ich auf meinen Fingern! Er war tief verletzt durch das, was an diesem Tag vorgefallen war. Tränen rührten ihn nicht, Herzlichkeit erwärmte ihn nicht. Von dem Menschen war keine glückliche Versöhnung zu erzielen, kein ermunterndes Lächeln, kein großmütiges Wort – aber der Christ war noch immer ruhig und geduldig. Und als ich ihn fragte, ob er mir vergeben habe, sagte er, dass es nicht seine Gewohnheit sei, die Erinnerung an eine Kränkung zu bewahren, und dass er nichts zu vergeben habe, da er gar nicht beleidigt sei.
Und mit dieser Antwort ging er von mir. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich mit den Fäusten zu Boden geschlagen hätte.
Fünfunddreißigstes Kapitel
Am folgenden Tag reiste er jedoch nicht nach Cambridge ab, wie er es angekündigt hatte. Er schob die Abreise noch eine ganze Woche auf, und während dieser Zeit ließ er mich empfinden, welch schwere Strafe ein guter, jedoch strenger, ein gewissenhafter, jedoch unbeugsamer Mann einem Wesen auferlegen kann, das ihn beleidigt hat. Ohne irgendeinen Akt von offener Feindseligkeit, ohne ein Wort des Vorwurfs gelang es ihm, mir fortwährend die Überzeugung beizubringen, dass ich seine Gunst vollständig verloren hatte.
Nicht, dass St. John den Geist unchristlicher Rachsucht gehegt und mir auch nur ein Haar auf meinem Haupt gekrümmt hätte, selbst wenn dies in seiner Macht gestanden hätte. Sowohl durch Grundsatz wie durch Natur war er erhaben über jede gemeine Befriedigung seines Rachegefühls. Er hatte mir
verziehen
, dass ich gesagt hatte, ich verachte ihn und seine Liebe. Aber
vergessen
hatte er die Worte nicht, und er würde sie auch nicht vergessen, solange er und ich lebten. Wenn er sich zu mir wandte, sah ich an seinem Blick, dass sie stets zwischen ihm und mir in der Luft geschrieben standen; wenn ich sprach, so schlugen sie in meiner Stimme an sein Ohr, und ihr Echo klang aus jeder Antwort, die er mir gab.
Er nahm durchaus nicht von jeder Unterhaltung mit mir Abstand, er rief mich sogar wie
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