Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Selbst zurückkehren, ich hätte noch mein ungefesseltes Empfinden für die Augenblicke trauriger Einsamkeit. Es würde in meiner Seele Zufluchtsorte geben, die nur mir gehörten und in welche er niemals eindringen könnte; Gefühle könnten dort frisch und ungestört keimen und wachsen, welche seine Strenge nicht zu versengen, sein gemessener Kriegerschritt nicht zu zertreten vermöchte. – Aber als sein Weib, stets ihm zur Seite, stets beschränkt und kontrolliert; gezwungen, das Feuer meiner Natur, meines Temperaments unaufhörlich zu bewachen, es dazu zu zwingen, sich in meinem Inneren selbst zu verzehren und niemals einen Schrei auszustoßen, wenn auch die eingeschlossene Flamme ein Lebenswerkzeug nach dem andern verschlänge – nein,
das
würde unerträglich sein!
»St. John!«, rief ich aus, als ich in meinen Gedanken bis hierher gekommen war.
»Nun?«, fragte er eisig.
»Ich wiederhole es noch einmal, ich willige ein, als deine Gefährtin, deine Missionshelferin mit dir zu gehen – aber nicht als deine Gattin. Ich kann dich nicht heiraten, ich kann nicht ein Teil von dir werden.«
»Du musst ein Teil von mir werden«, entgegnete er entschlossen, »oder der ganze Handel ist ungültig. Wie könnte ich, ein Mann, der noch nicht dreißig Jahre alt ist, ein Mädchen von neunzehn Jahren mit mir nach Indien nehmen, wenn es nicht meine Gattin ist? Wie könnten wir für immer beisammen sein, zuweilen in abgelegenen Einöden, zuweilen unter wilden Stämmen, und nicht verheiratet?«
»Sehr gut«, entgegnete ich kurz. »Sehr gut ginge dies unter solchen Umständen. Wir könnten so leben, als ob ich deine wirkliche Schwester wäre – oder ein Mann und Geistlicher wie du selbst.«
»Man weiß, dass du nicht meine Schwester bist; ich kann dich nirgends als solche hinführen. Es hieße, beleidigendesMisstrauen an unser beider Fersen zu heften, wenn ich es versuchte. Und überdies – wenn du auch den starken Verstand eines Mannes hast, so hast du doch das Herz eines Weibes, und … es ginge nicht.«
»Es würde gehen«, versicherte ich leicht verächtlich. »Es würde ausgezeichnet gehen. Ich habe das Herz einer Frau – aber nicht, wenn du im Spiel bist; für dich hege ich nur die beständige Freundschaft eines Gefährten, die Offenherzigkeit, die Treue, die brüderliche Empfindung eines Kriegskameraden, die Achtung und die Unterwürfigkeit eines Neubekehrten für seinen Oberpriester. Mehr nicht. Fürchte also nichts!«
»Das ist’s, was ich brauche«, sagte er, mit sich selbst sprechend, »das ist gerade, was ich brauche! Es sind Hindernisse im Weg, aber sie müssen niedergehauen werden. Jane, du würdest es nicht bereuen, wenn du mich heiratetest; davon kannst du überzeugt sein. Wir müssen einander heiraten. Ich wiederhole es, es gibt keinen anderen Ausweg! Und nach der Heirat wird ohne Zweifel ausreichend Liebe entstehen, um die Verbindung in deinen Augen erträglich zu machen.«
»Ich verabscheue deine Idee von der Liebe«, konnte ich nicht unterlassen zu entgegnen. Ich erhob mich und stand nun mit dem Rücken an den Felsen gelehnt vor ihm. »Ich verachte das unechte Gefühl, welches du mir bietest. Ja, St. John, und ich verachte dich, weil du es mir anbietest.«
Er blickte mich scharf an und kniff seine schön geformten Lippen fest zusammen. Ob er empört oder überrascht oder sonst irgendetwas war, war schwer zu sagen; er hatte seine Gesichtszüge vollständig in der Gewalt.
»Ich erwartete kaum, diese Worte von dir zu hören«, sagte er. »Ich glaube, ich habe nichts getan oder gesagt, das Verachtung verdiente.«
Sein sanfter Ton rührte mich; seine ruhige, erhabene Miene überwältigte mich.
»Vergib mir die Worte, St. John, aber es ist deine eigene Schuld, dass ich mich hinreißen ließ, so unüberlegt zu sprechen. Du hast einen Gegenstand zur Sprache gebracht, über den wir – unseren verschiedenen Naturen entsprechend – ganz verschieden denken, einen Gegenstand, den wir beide niemals diskutieren sollten. Das bloße Wort ›Liebe‹ wird schon zum Zankapfel zwischen uns – was würden wir nur tun, wenn Liebe in Wirklichkeit erfordert wäre? Wie würde uns ums Herz sein? Mein teurer Vetter, gib deinen Heiratsplan auf – vergiss ihn!«
»Nein«, entgegnete er, »es ist ein lange gehegter Plan, und der einzige, der mir mein großes Ziel sichern kann. Aber für den Augenblick will ich nicht weiter in dich dringen. Morgen reise ich nach Cambridge, ich habe dort viele Freunde, denen ich
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