Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
gewöhnlich jeden Morgen an sein Pult, um mit ihm zu arbeiten. Aber während er augenscheinlich ganz so handelte und sprach wie gewöhnlich, fürchte ich, dass der böse Mensch in ihm ein Vergnügen daran fand, mit größter Geschicklichkeit aus jedem Wortund jeder Tat den Geist des Interesses und des Beifalls zu entfernen, welcher früher seiner Sprache und seinem ganzen Wesen einen gewissen herben Reiz verliehen hatte – ein Vergnügen, an welchem der reine Christ in ihm sicher keinem Anteil hatte. Für mich war er in Wirklichkeit nicht mehr Fleisch und Blut, sondern Marmor; sein Auge war ein kalter, klarer, blauer Edelstein, seine Zunge ein sprechendes Instrument – sonst nichts.
All dies war eine Qual für mich, eine raffinierte, langsame Qual, die in mir ein kleines Feuer der Empörung nährte und einen zitternden, ärgerlichen Kummer, der mich quälte und bedrückte. Ich fühlte, dass dieser gute Mensch, der so rein war wie die klarste Quelle, mich binnen kurzem töten würde, wenn ich seine Frau wäre – und zwar ohne meinen Adern einen einzigen Tropfen Blut zu entziehen und ohne sein kristallklares Gewissen auch nur mit dem leisesten Hauch eines Verbrechens zu beschweren. Besonders empfand ich dies, wenn ich einen Versuch machte, ihn zu besänftigen. Mein Mitleid stieß nicht auf Mitleid.
Ihm
verursachte unsere Entfremdung keine Qual;
er
empfand kein Verlangen nach Versöhnung. Und obgleich meine schnell fließenden Tränen mehr als einmal auf das Buch fielen, über welches wir beide gebeugt waren, so machten sie doch nicht mehr Eindruck auf ihn, als wenn sein Herz ein Gegenstand aus Metall oder Stein gewesen wäre. Zu seinen Schwestern war er indessen herzlicher als gewöhnlich; gerade als fürchtete er, dass bloße Kälte mich noch nicht hinlänglich überzeugen könnte, wie vollständig ich in den Bann getan sei, wollte er noch die Macht des Kontrastes hinzufügen. Und dies tat er, ich bin fest davon überzeugt, nicht aus Bosheit, sondern aus Grundsatz.
Am Abend vor seiner Abreise sah ich ihn zufällig gegen Sonnenuntergang im Garten auf und ab gehen. Als ich ihn erblickte, dachte ich wieder daran, dass dieser Mann, entfremdet wie er mir jetzt war, einst mein Leben gerettet hatteund dass wir nahe Verwandte seien. Das bewog mich, einen letzten Versuch zur Wiedererlangung seiner Freundschaft zu machen. Ich ging hinaus und näherte mich ihm, als er an die kleine Pforte gelehnt dastand. Sofort begann ich, von dem zu reden, was mir auf dem Herzen lag.
»St. John, ich bin unglücklich, weil du mir noch immer zürnst. Lass uns wieder Freunde sein.«
»Ich hoffe doch, dass wir Freunde sind«, lautete die gelassene Antwort, während er den Blick auf den aufgehenden Mond gerichtet hielt, den er schon betrachtet hatte, als ich mich ihm näherte.
»Nein, St. John, wir sind nicht mehr Freunde wie früher. Du weißt das wohl.«
»Sind wir es nicht? Das wäre falsch. Ich meinerseits wünsche dir nichts Böses, sondern nur Gutes.«
»Ich glaube dir, St. John, denn ich bin fest überzeugt, dass du nicht fähig bist, irgendjemandem Böses zu wünschen. Da ich aber deine Verwandte bin, würde ich mir ein wenig mehr Zuneigung wünschen als jene Art allgemeiner Philanthropie, mit der du auch gänzlich fremde Menschen umfängst.«
»Natürlich«, sagte er. »Der Wunsch ist durchaus billig, und ich bin weit entfernt davon, dich als eine Fremde zu betrachten.«
Dies sprach er in sehr kühlem, ruhigem Ton, und das war kränkend und demütigend genug. Hätte ich den Ratschlägen meines Stolzes und meiner Wut Gehör geschenkt, so würde ich ihn augenblicklich verlassen haben. Aber es war etwas in mir, das stärker war als diese Gefühle. Ich hatte eine tiefe Verehrung für die Grundsätze und die Begabung meines Vetters. Seine Freundschaft war von großem Wert für mich; sie zu verlieren, wäre eine harte Prüfung gewesen. Deshalb gab ich den Versuch auch nicht so schnell auf, sie wieder zu erobern.
»Wollen wir uns denn in solcher Stimmung trennen,St. John? Und wenn du nach Indien gehst, willst du mich dann ohne ein freundlicheres Wort verlassen?«
Jetzt endlich wandte er sich ganz vom Mond ab und blickte mir gerade ins Gesicht.
»Jane, werde ich dich denn verlassen, wenn ich nach Indien gehe? Wie? Gehst du nicht mit mir nach Indien?«
»Du sagtest, das könnte ich nicht, wenn ich dich nicht vorher heiratete.«
»Und du willst mich nicht heiraten? Du bleibst fest bei jenem Entschluss?«
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