Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
perfiden Winke, welche Mrs. Reed ihm über meinen Charakter gegeben hatte, und des von Mr. Brocklehurst gegebenen Versprechens, Miss Temple und die Lehrerinnen über meine lasterhafte, verderbte Natur in Kenntnis zu setzen. Während der ganzen Zeit hatte ich schon die Erfüllung seines Versprechens gefürchtet; täglich hatte ich Ausschau gehalten nach dem »Manne, der da wiederkehren wird«, um mich durch seine Auskunft über mein vergangenes Leben und mein Betragen als ein schlechtes Kind zu brandmarken – und jetzt war er da! Er stand neben Miss Temple, er sprach leise zu ihr ins Ohr. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er ihr Enthüllungen über meine Schlechtigkeit machte. Mit qualvoller Angst beobachtete ich ihre Blicke, jede Minute erwartete ich, ihr dunkles Auge sich voller Abscheu und Verachtung auf mich heften zu sehen. Auch lauschte ich. Und da ich am oberen Ende des Zimmers saß, konnte ich den größten Teil des von ihm geführten Gespräches hören. Der Inhalt desselben befreite mich jedoch von der augenblicklichen Furcht:
»Ich nehme an, Miss Temple, dass der Zwirn, den ich in Lowton gekauft habe, genügen wird. Es fiel mir ein, dass diese Qualität gerade für die Kattunhemden gut sein werde, und ich habe auch die dazu passenden Nadeln ausgesucht. Wollen Sie Miss Smith sagen, dass ich vergaß, mir die Stopfnadeln zu notieren; nächste Woche wird sie indessen einige Päckchen derselben bekommen. Und sagen Sie ihr auch, dass sie den Schülerinnen unter keinen Umständen mehr alsjeweils eine Nadel geben soll; wenn sie mehrere davon haben, werden sie nur nachlässig und verlieren sie. Und dann, oh, Miss Temple! Ich wünschte wirklich, dass den wollenen Strümpfen mehr Beachtung geschenkt würde! Als ich das letzte Mal hier war, ging ich in den Küchengarten und besah mir die Wäsche, welche auf der Leine trocknete. Eine ganze Anzahl der schwarzen Strümpfe war auf die mangelhafteste Weise gestopft. Aus der Größe der Löcher, welche ich in ihnen bemerkte, schloss ich, dass sie nicht gut ausgebessert sein konnten.«
Hier hielt er inne.
»Ihre Weisungen sollen befolgt werden, Sir«, sagte Miss Temple.
»Und, Madam«, fuhr er fort, »die Wäscherin erzählte mir, dass einige der Mädchen zwei frische Halskrausen in einer Woche erhalten hätten; das ist viel zu viel! Die Hausregel bestimmt, dass es
eine
sei.«
»Ich glaube, Sir, dass ich diesen Umstand genügend erklären kann. Am vorigen Donnerstag waren Agnes und Catherine Johnstone eingeladen, bei ihren Freunden in Lowton den Tee zu nehmen. Ich gab ihnen die Erlaubnis, für diese Gelegenheit frische Halskrausen anzulegen.«
Mr. Brocklehurst nickte.
»Nun, für einmal mag es hingehen, aber ich ersuche Sie, diesen Fall nicht zu oft eintreten zu lassen. Aber noch eine andere Sache hat mich höchlichst überrascht. Als ich die Rechnung mit der Haushälterin abschloss, fand ich, dass während der letzten zwei Wochen den Schülerinnen zweimal ein Gabelfrühstück serviert worden ist, welches aus Brot und Käse bestand. Was bedeutet das? Ich habe die Statuten durchgesehen und fand dort keine Mahlzeit erwähnt, die sich ›Gabelfrühstück‹ nennt. Wer hat diese Neuerung eingeführt und auf welche Autorität ist sie gestützt?«
»Für diesen Umstand bin ich verantwortlich, Sir«, entgegnete Miss Temple. »Das Frühstück war so außergewöhnlichschlecht zubereitet, dass die Schülerinnen es nicht essen konnten, und ich durfte nicht zulassen, dass sie bis zum Mittagessen fasteten.«
»Miss Temple, gestatten Sie mir einen Augenblick zu reden. – Sie wissen, dass es meine Absicht bei der Erziehung dieser Mädchen ist, sie nicht an Luxus und Wohlleben zu gewöhnen, sondern sie abzuhärten und sie aufopferungsvoll, geduldig und entsagend zu machen. Sollte nun einmal zufällig solch eine kleine Enttäuschung des Appetits vorkommen, wie z. B. das Verderben einer Mahlzeit, das Versalzen eines Fisches und dergleichen, so sollte dieser kleine, unbedeutende Zwischenfall nicht neutralisiert werden, indem man den verlorenen Genuss durch einen noch größeren Leckerbissen ersetzt und damit den Körper verweichlicht und den Zweck und das Ziel dieser barmherzigen Stiftung untergräbt. Man sollte ein solches Vorkommnis eher dazu benützen, den Schülerinnen eine geistige Erbauung zu schaffen, indem man sie ermutigt, auch bei temporären Entbehrungen ihre geistige Kraft zu behaupten. Eine kurze Ansprache bei solchen Gelegenheiten würde sehr angemessen sein.
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