Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Ein kluger Lehrer würde z. B. auf die Leiden und Entsagungen der ersten Christen hinweisen, auf die Qualen der Märtyrer, ja sogar auf die Gebete unsers gesegneten Heilands selbst, der seine Jünger ermahnt, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen. Auf seine Warnungen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt; auf seine göttlichen Tröstungen: ›Glücklich seid ihr, so ihr für mich Hunger oder Durst leidet!‹ Oh, Miss Temple, wenn Sie anstatt des angebrannten Haferbreis Brot und Käse in den Mund dieser Kinder legen, so füttern Sie allerdings ihre sündigen Leiber, aber Sie denken wenig daran, dass Sie ihre unsterblichen Seelen verhungern lassen.«
Mr. Brocklehurst hielt wieder inne, wohl von seinen Gefühlen übermannt. Beim Beginn seiner Rede hatte MissTemple zu Boden geblickt, jetzt aber sah sie gerade vor sich hin, und ihr Gesicht, welches von Natur aus bleich wie Marmor war, schien nun auch die Kälte und Unbeweglichkeit dieses Materials anzunehmen. Besonders ihr Mund schloss sich so fest, als hätte es des Meißels eines Bildhauers bedurft, um ihn wieder zu öffnen. Ihre Stirn war wie versteinert.
Inzwischen stand Mr. Brocklehurst vor dem Kamin, die Hände hatte er auf den Rücken gelegt und majestätisch ließ er seine Blicke über die ganze Schule schweifen. Plötzlich zuckte er zusammen, als ob seine Augen geblendet oder schmerzhaft berührt worden seien. Dann wandte er sich um und sagte, deutlich schneller, als er bisher gesprochen hatte:
»Miss Temple, Miss Temple, was … was für ein Mädchen ist das da, mit den lockigen Haaren? Rotes Haar, Madam, lockig … ganz und gar lockig?« – Bei diesen Worten streckte er seinen Stock aus und zeigte auf den entsetzlichen Gegenstand, seine Hände zitterten vor Erregung.
»Das ist Julia Severn«, entgegnete Miss Temple ruhig.
»Julia Severn, Madam! Und weshalb hat sie oder irgendeine andere gelocktes Haar? Weshalb bekennt sie sich entgegen allen Vorschriften und Grundsätzen dieses Hauses so offen zu den Gelüsten der Welt, hier in einem dem Evangelium verpflichteten Institut der Barmherzigkeit? Hier wagt sie es, ihr Haar in derartigen Locken zu tragen?«
»Julias Haar ist von Natur aus lockig«, entgegnete Miss Temple noch ruhiger.
»Von Natur aus, ja! Aber wir sollen uns der Natur nicht anpassen! Ich wünsche, dass diese Mädchen Kinder der Gnade werden. Wozu da jener Überfluss? Ich habe doch zu wiederholten Malen angeordnet, dass ich das Haar einfach, bescheiden, glatt anliegend arrangiert zu sehen wünsche. Miss Temple, das Haar jenes Mädchens muss umgehend abgeschnitten werden! Gleich morgen werde ich einen Barbier herausschicken, denn ich sehe auch noch andere, die viel zuviel von diesem Auswuchs haben – das große Mädchen dort zum Beispiel. Sagen Sie ihr, dass sie sich umdreht. Sagen Sie den Mädchen der ganzen ersten Bank, dass sie sich erheben und die Gesichter der Wand zuwenden sollen!«
Miss Temple fuhr mit dem Taschentuch über die Lippen, als wollte sie ein unwillkürliches Lächeln verjagen, dass dieselben kräuselte; indessen erteilte sie den gewünschten Befehl. Und als die erste Klasse verstanden hatte, was man von ihr verlangte, taten alle, wie ihnen geheißen. Ich lehnte mich ein wenig auf meiner Bank zurück und konnte die Blicke und Grimassen wahrnehmen, mit welchen die Mädchen dieses Manöver begleiteten. Schade, dass nicht auch Mr. Brocklehurst sie so betrachten konnte. Vielleicht würde er ja eingesehen haben, dass, was immer er auch mit der Außenseite der Gefäße tun mochte, deren Inneres seiner Einmischung weiter entrückt war, als er begreifen konnte.
Ungefähr fünf Minuten lang betrachtete er die Rückseiten dieser lebenden Medaillen mit prüfenden Blicken – dann fällte er das Urteil. Die Worte tönten wie die Posaune des jüngsten Gerichts:
»All diese Haarflechten und Knoten müssen abgeschnitten werden!«
Miss Temple schien ihm widersprechen zu wollen.
»Madam«, fuhr er fort, »ich diene einem Herrn, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. Meine Aufgabe ist es, in diesen Mädchen die Lüste des Fleisches zu ersticken, sie zu lehren, dass sie sich mit Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit kleiden, nicht mit gesalbten Haaren und köstlicher Gewandung. Aber diese jungen Personen da vor uns tragen ihr Haar in Zöpfen, welche die Eitelkeit selbst geflochten hat – und diese, ich wiederhole es, müssen abgeschnitten werden! Denken Sie doch
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