Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
bedauere ihn, den armen gemordeten König! Ja, seine Feinde waren die Schlimmsten; sie vergossen Blut, welches zu vergießen sie kein Recht hatten! Wie konnten sie es wagen, ihn zu töten!«
Helen sprach jetzt mit sich selbst; sie hatte ganz vergessen, dass ich kaum imstande war, sie zu verstehen – dass ich unwissend war, dass der Gegenstand, über den sie sprach, mir fast unbekannt war. Ich rief sie wieder auf meine Ebene zurück.
»Wandern deine Gedanken auch, wenn Miss Temple dich unterrichtet?«
»Nein, gewiss nicht, oder doch nur selten. Miss Temple hat immer etwas zu sagen, das für meine eigenen Reflexionen noch neu ist. Ihre Sprechweise ist mir seltsam angenehm, und der Unterrichtsstoff, welchen sie vermittelt, ist meistens gerade das, was ich zu lernen wünsche.«
»Also mit Miss Temple stehst du gut?«
»Ja, auf eine passive Weise. Ich unternehme keine besonderen Anstrengungen, ich folge nur, wohin meine Neigung mich führt. Auf diese Weise gut zu sein, darin liegt kein besonderes Verdienst.«
»Ein großes Verdienst! Du bist gut mit denen, die gut mit dir sind. Wahrhaftig, nichts anderes wünschte ich auch. Wenn die Menschen stets gut und gehorsam den Ungerechten gegenüber wären, so ginge den bösen Menschen ja alles nach ihrem Kopfe; sie würden vor nichts mehr zurückschrecken und sich niemals bessern, sondern immer schlechter und schlechter werden. Wenn man uns ohne Grund schlägt, so sollten wir mit aller Macht zurückschlagen. Ganz gewiss, das sollten wir tun – so kräftig, dass die Person, welche es getan hat, sich wohl hüten wird, es jemals wieder zu tun.«
»Ich hoffe, du wirst anderen Sinnes werden, wenn du älter wirst, bis jetzt bist du ja nur ein kleines, unwissendes Mädchen, das es nicht besser gelernt hat.«
»Aber das fühle ich doch ganz deutlich, Helen, dass ich diejenigen hassen muss, die fortfahren, mich zu hassen, obwohl ich alles tue, was ihnen eigentlich Freude machen sollte. Ich
muss
mich auflehnen gegen die, welche mich ungerecht bestrafen. Es ist ebenso natürlich, wie dass ich jene liebe, die mir Liebe zeigen oder dass ich mich ruhig einer Strafe unterwerfe, wenn ich fühle, dass sie verdient ist.«
»Heiden und wilde Stämme huldigen vielleicht solchen Ideen, aber zu Christen und zivilisierten Nationen passen sie nicht.«
»Wie? Ich verstehe das nicht.«
»Hass kann nicht durch Gewalt besiegt werden, und Rache kann keine geschlagenen Wunden heilen.«
»Was sonst?«
»Lies das Neue Testament und merke, was Christus sagt, wie er handelt. Mach sein Wort zu deiner Richtschnur, sein Tun zu deinem Beispiel.«
»Was sagt er denn?«
»Liebet eure Feinde, segnet die, die euch verfluchen, tut denen wohl, die euch hassen und euch beleidigen.«
»Dann müsste ich ja Mrs. Reed lieben, und das kann ich nicht. Ich müsste ihren Sohn John segnen, und das ist unmöglich.«
Nun bat Helen Burns mich, ihr diese Worte zu erklären, und sofort begann ich ihr die ganze Geschichte meiner Leiden und Qualen, das ganze Register der mir widerfahrenen Unbill zu erzählen. Wild und bitter erzählte ich, da ich sehr erregt war. Ich sprach, wie ich fühlte – ohne Beschönigung, ohne Zurückhaltung.
Geduldig hörte Helen mir bis zum Ende zu. Ich erwartete, dass sie nun irgendeine Bemerkung machen würde, aber sie schwieg.
»Nun«, fragte ich ungeduldig, »ist Mrs. Reed nicht ein herzloses, böses Weib?«
»Sie ist nicht gütig gegen dich gewesen, ohne Zweifel,weil sie – das musst du begreifen lernen – deinen Charakter ebenso abstoßend findet, wie Miss Scatcherd den meinen. Wie genau du dich aber an alles erinnerst, was sie dir getan, was sie dir gesagt hat! Welch einen seltsam tiefen Eindruck ihre Ungerechtigkeit auf dein Herz gemacht zu haben scheint! So tief vermag die Erinnerung an erlittenes Unrecht sich
meinem
Gefühl nicht einzuprägen. Würdest du nicht auch glücklicher sein, wenn du versuchtest, ihre Strenge und die leidenschaftlichen Empfindungen, welche diese in dir wachrief, zu vergessen? Das Leben scheint mir doch zu kurz zu sein, um es damit hinzubringen, Feindseligkeit zu nähren und erduldete Unbill zu verzeichnen. Ein jeder von uns ist auf dieser Welt mit Fehlern beladen, und er muss es sein, aber bald wird die Zeit kommen, das hoffe ich zuversichtlich, wo wir sie zusammen mit unserem vergänglichen, irdischen Leib ablegen, wo wir Vergänglichkeit und Sünde mit diesem hinfälligen Fleisch von uns streifen und nur der Seelenfunke zurückbleibt – dieser
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