Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Straße einsam. Ich ging sehr schnell, bis ich mich erwärmt hatte, dann ging ich langsamer, um das Vergnügen, welches Zeit und Umstände für mich in sich bargen, zu genießen und zu ergründen. Die Kirchenuhr schlug drei, als ich am Glockenturm vorüberging. Die niedersinkende, matt strahlende Sonne und die herannahende Dämmerung machten die Stunde reizvoll. Ich war eine Meile von Thornfield entfernt auf einem engen Heckenweg, welcher im Sommer für seine wilden Rosen, im Herbst für seine Nüsse und Brombeeren bekannt war, und der sogar jetzt noch einige korallenrote Schätze in Gestalt von Hagebutten und Mehlbeeren aufzuweisen hatte. Im Winter jedoch bot der Weg die herrlichste, vollständige Einsamkeit in laubloser, starrer Ruhe. Selbst wenn ein Lüftchen wehte, weckte es hier keinen Laut, denn hier war kein Stechpalmengesträuch, kein Immergrün, welches hätte rauschen können, und die entblätterten Weißdorn- und Haselnussbüsche lagen ebenso still da, wie die weißen, ausgetretenen Steine, mit welchen der Fußpfad in der Mitte gepflastert war. Weit und breit lagen zur Seite nur Felder, auf denen jetzt kein Vieh mehr weidete. Die kleinen braunen Vögel, welche sich dann und wann in der Hecke rührten, sahen aus wie einzelne welke Blätter, die vergessen hatten abzufallen.
Dieser Weg zog sich den Hügel nach Hay hinauf; als ich die halbe Strecke hinter mir hatte, setzte ich mich an einem Zaunübertritt nieder, über welchen man aufs Feld gelangen konnte. Ich hüllte mich fest in meinen Mantel, verbarg dieHände in meinem Muff und fühlte auf diese Weise die Kälte nicht, obgleich es scharf fror: Eine dünne Eisschicht bedeckte den Fußpfad dort, wo noch vor wenigen Tagen nach starkem Tauwetter ein kleines Bächlein dahingerieselt war. Von meinem Platz aus konnte ich auf Thornfield hinunterblicken, das graue, mit Zinnen gekrönte Herrenhaus bildete den höchsten Punkt in dem Tal zu meinen Füßen, die Wälder und das dunkle Krähengenist erhoben sich gegen Westen. Ich verweilte, bis die Sonne hinter den Bäumen feurig und klar versank. Dann wandte ich mich ostwärts.
Über der Spitze des Hügels oberhalb des Weges stand der aufgehende Mond; jetzt noch bleich, aber mit jedem Augenblick strahlender werdend. Er blickte auf Hay hinab, das, halb in Bäumen versteckt, aus seinen wenigen Schornsteinen einen bläulichen Rauch gen Himmel sandte. Der Ort lag noch eine Meile entfernt, aber in der tiefen Stille, welche herrschte, drangen die Töne des schwachen Lebens, welches in dem Orte pulsierte, bis zu mir. Mein Ohr vernahm auch das Rauschen von Wasser; aus welchen Tiefen und Tälern es drang, vermochte ich aber nicht zu sagen. Jenseits von Hay waren viele Berge und zweifellos auch viele Bäche, welche von ihren Höhen herabrauschten. In der Ruhe dieses Abends vernahm man sowohl das Rieseln der nahen Bächlein wie das Rauschen der weit entfernten Bäche.
Plötzlich unterbrach ein grobes Geräusch dies zarte, ferne und doch so klare Flüstern und Rieseln, ein Trampeln und metallisches Klirren übertönte das sanfte Gemurmel der Wellen. Es war gerade so, wie wenn auf einem Bild ein großer Felsen oder das raue Geäst einer großen Eiche sich in groben und kühnen Zügen im Vordergrund erhebt und den Hintergrund stört: die luftige Ferne blauer Hügel, den sonnigen Horizont und die klaren Wolken, wo alle Farben ineinander verschwimmen.
Der Lärm war auf dem Fußpfad: Ein Pferd näherte sich. Die Windungen des Weges verbargen es zwar noch, aber eskam stetig näher. Ich wollte zuerst meinen Platz verlassen; da der Pfad aber schmal war, blieb ich doch lieber still sitzen, um es vorbeizulassen. In jenen Tagen war ich jung, und Tausend helle und düstere Phantasien bevölkerten mein Gemüt. Die Erinnerungen an Kinderzimmergeschichten lagen dort unter manch anderem Unsinn verborgen, und wenn sie wach wurden, verlieh die reifere Jugend ihnen eine Lebhaftigkeit und Stärke, welche die Kindheit ihnen nicht zu geben vermocht hatte. Als dieses Pferd näher kam und ich erwartete, es in der Dämmerung auftauchen zu sehen, fiel mir eine von Bessies Geschichten ein, in welcher ein Geist aus dem Norden Englands mit dem Namen Gytrash vorkam. Dieser suchte in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes einsame Wege heim und überfiel zuweilen nächtliche Wanderer, gerade so, wie dieses Pferd jetzt auf mich zukam.
Es war schon sehr nahe, aber immer noch nicht sichtbar, da vernahm ich außer jenem Getrappel noch ein Rascheln
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