Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
theoretische Verehrung und Hochachtung für Schönheit, Eleganz, Galanterie und Liebenswürdigkeit; hätte ich jedoch all diese Eigenschaften in einem Mann verkörpert gefunden, so würde ich instinktiv gefühlt haben, dass dieser niemals Sympathie für irgendetwas in mir hegen konnte, und ich würde ihn gemieden haben, wie man den Blitz oder das Feuer oder sonst irgendetwas meidet, das wohl glänzend und strahlend, jedoch abweisend ist.
Und wenn dieser Fremde mich angelächelt hätte oder freundlich gewesen wäre, als ich ihn anredete, wenn er die ihm angebotene Hilfe dankbar und liebenswürdig abgelehnt hätte – so würde ich wahrscheinlich meiner Wege gegangen sein und durchaus keinen Wunsch in mir verspürt haben, mein Anerbieten zu erneuern. Aber das Stirnrunzeln, die Rauheit des Reisenden machten mich unbefangen. Als er mir winkte, beiseite zu gehen, verharrte ich auf meinem Platz und kündigte ihm an:
»Ich kann gar nicht daran denken, Sir, Sie zu so später Stunde auf diesem einsamen Gässchen allein zu lassen, bevor ich nicht gesehen habe, ob Sie imstande sind, Ihr Pferd wieder zu besteigen.«
Als ich dies sagte, blickte er mich an – bis dahin hatte er die Augen kaum auf mich gerichtet.
»Mich dünkt, Sie sollten dafür sorgen, dass Sie selbst nach Hause kämen«, sagte er, »wenn Sie ein Haus in der Nähe haben. Woher kommen Sie denn?«
»Von dort unten, und ich fürchte mich durchaus nicht, spät draußen auf der Landstraße zu sein, wenn der Mond scheint. Wenn Sie es wünschen, werde ich mit Vergnügen für Sie nach Hay hinüberlaufen – ich muss nämlich dorthin, um einen Brief auf die Post zu bringen.«
»Sie wohnen dort unten? Sie meinen doch nicht in jenem Haus dort, mit den Zinnen?«, mit diesen Worten deutete er auf Thornfield Hall, auf welches der Mond jetzt seinen bleichen Schein warf. Deutlich und hell hob es sich von den Wäldern ab, welche jetzt im Gegensatz zu dem westlichen Himmel eine ungeheure, schattige Masse bildeten.
»Doch, Sir.«
»Wem gehört das Haus?«
»Mr. Rochester.«
»Kennen Sie Mr. Rochester?«
»Nein, ich habe ihn niemals gesehen.«
»Er wohnt also jetzt nicht dort?«
»Nein.«
»Können Sie mir denn sagen, wo er sich aufhält?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Natürlich sind Sie keine Dienerin im Herrenhaus. Sie sind …«, er hielt inne und ließ die Augen über meine Kleidung schweifen, welche wie immer sehr einfach war: ein schwarzer Merinomantel und ein schwarzer Filzhut. Beides würde nicht im Entferntesten elegant genug für eine Zofe gewesen sein. Es ward ihm schwer zu entscheiden, was ich sein könnte. Ich half ihm.
»Ich bin die Gouvernante.«
»Ah, die Gouvernante!«, wiederholte er. »Der Teufel soll mich holen, die hatte ich ganz vergessen! Die Gouvernante! Die Gouvernante!«, und wiederum unterwarf er meine Toilette einer eingehenden Prüfung. Nach einer Weile erhob er sich von seinem Platz am Zaun; sein Gesicht drückte den größten Schmerz aus, als er versuchte, eine Bewegung zu machen.
»Ich kann Sie nicht beauftragen, Hilfe herbeizuholen«, sagte er, »aber Sie selbst könnten mir ein wenig helfen, wenn Sie vielleicht so gut wären?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie nicht einen Regenschirm, den ich als Stütze gebrauchen könnte?«
»Nein.«
»Versuchen Sie, die Zügel meines Pferdes zu fassen, und es mir herzuführen. Sie fürchten sich doch nicht?«
Wäre ich allein gewesen, so würde ich mich gefürchtet haben, ein Pferd zu berühren; da mir jedoch geheißen wurde, es zu tun, war ich geneigt zu gehorchen. Ich legte meinen Muff am Zaun nieder und näherte mich dem großen Tier. Ich bemühte mich, die Zügel zu fassen, es war aber ein feuriges Tier und es wollte mich nicht zu nahe an seinen Kopf herankommen lassen. All meine Versuche blieben erfolglos. Dabei fürchtete ich mich beinahe zu Tode vor seinenVorderhufen, mit denen es unaufhörlich ausschlug. Der Fremde wartete und beobachtete mich einige Zeit; endlich lachte er laut auf.
»Ich sehe schon«, sagte er, »der Berg will sich nicht zu Mohammed bringen lassen, also können Sie weiter nichts tun, als Mohammed helfen, dass er zum Berge gehe. Ich muss Sie bitten herzukommen.«
Ich ging. »Verzeihen Sie mir«, fuhr er fort, »aber die Not zwingt mich, Sie zu beanspruchen.« Er legte eine schwere Hand auf meine Schulter, und sich mit Nachdruck auf mich lehnend, hinkte er bis zu seinem Pferd. Als es ihm erst einmal gelungen war, die Zügel zu fassen, beherrschte er das Tier sofort
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