Je länger, je lieber - Roman
stoßweise, als lastete etwas schwer auf ihrer Brust, das sich nicht abschütteln ließ.
Mimi setzte sich zu ihr auf die Bettkante und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, wobei ihr Blick über das gerahmte Foto ihres Großvaters glitt, als wollte er ihr verraten, was Liebe war. Mimi schluckte. »Ich wollte meinen Abend lieber mit dir verbringen.« Sie blickte ihre Großmutter an. Ihre blassblauen Augen waren hellwach, obwohl sie seltsam angestrengt wirkte.
»Ich hab dich vermisst.«
»Hast du Kummer, Kindchen? Wo ist René? Hat er heute nicht seinen bedeutenden Abend? Margarete ist ganz aufgeregt. Da war sogar ein Bericht mit Foto in der Zeitung.«
»Ich weiß.« Mimi lächelte gequält. Sie wollte nichts mehr von diesem Mann hören, dem sie vertraut hatte. Nicht seinen Namen. Gar nichts. Sie wollte sich erst recht nicht vorstellen, wie er sich heute Abend feiern ließ. Mit der rothaarigen Kollegin dicht an seiner Seite. Es tat so weh.
Clara legte den Kopf schief. »Kindchen, was ist denn?«
»Nichts.« Ein riesiger Kloß im Hals drückte Mimi beinahe die Luft ab. Und dann weinte sie plötzlich los, als hätte sie seit heute Nachmittag auf diesen erlösenden Moment gewartet. Wieder und wieder wischte sie sich über die Augen. Clara legte ihr Rätselheft und die Lesebrille auf den Nachttisch. »Was ist denn passiert?«
Mimi schüttelte den Kopf. »Nichts.« Die Tränen quollen aus ihren Augen. Ihre Lippen zitterten. Sie wollte doch für ihre Großmutter da sein, nicht umgekehrt. Sie wollte fröhlich sein, Clara etwas Lustiges erzählen, so tun, als hätte sie alles unter Kontrolle. Stattdessen griff sie schluchzend nach ihren alten Händen und klammerte sich daran fest. »Mir geht es fantastisch. Vielleicht habe ich minimale Eheprobleme. Vielleicht hat René etwas getan, das ich ihm nie verzeihen werde. Aber mach dir keine Sorgen.«
»Er hat dich betrogen, habe ich recht?« Claras Stimme klang ganz ruhig, dennoch war der leicht wütende Unterton nicht zu überhören. Sie reichte Mimi ein Taschentuch.
Sie schniefte. »Woher weißt du das?«
»Na ja.« Clara zuckte fast unmerklich mit den Schultern. »Und was willst du jetzt tun?«
»Ich habe ihn verlassen.« Mimi holte tief Luft. Es fühlte sich gut an, das zu sagen. So, als hätte sie die Situation voll im Griff, als ginge es nur darum, eine klare Entscheidung zu treffen, um diesen bitteren Verlust so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.
Clara strich die Bettdecke über ihren Beinen und dem Bauch glatt. »Liebst du ihn denn nicht?«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« Mimi stand von der Bettkante auf. Sie war verstört. Diese Frage stellte sich doch gar nicht mehr, oder doch? Offensichtlich war ihre Großmutter lange nicht so aufgebracht darüber, was René ihr angetan hatte, wie sie. Sie hatte sich Trost erhofft, kein Gespräch über Vergebung.
»Es spielt eine große Rolle, die einzige überhaupt«, sagte Clara. »Dein Verstand wird sich dagegen sträuben. Er wird versuchen, logische Erklärungen zu finden, warum du nicht vergeben und vergessen solltest. Aber, wenn du ihn liebst, wird dein Herz nicht aufhören können, um ihn zu trauern. Das kann ich dir versprechen. Finde heraus, was du wirklich, tief in deinem Herzen für ihn empfindest, und dann tu, was du tun musst.«
Mimi starrte ihre Großmutter verständnislos an. Was brachte es, an etwas festzuhalten, das doch offensichtlich komplett zerstört worden war? »Diese Geschichte ist bereits beendet. Vorbei. Begraben. Vergessen.« Mimis Stimme klang eine Spur zu fest. »Oder nicht?«
Clara seufzte. »Bring mir meinen Kompass zurück, Kindchen. Dann verrate ich es dir.«
Plötzlich huschte ein seltsamer Anflug von Schmerz über das Gesicht ihrer Großmutter. Sie presste die Hand auf ihre Brust.
Mimi trat wieder näher heran. »Tut dein Herz weh?«
»Es geht schon, Kindchen.« Clara lächelte, aber ihr war anzusehen, dass ihr dieser Schmerz Angst machte.
»Geht es wieder los?« Mimi sah ihre Großmutter besorgt an. Sie hätte besser nichts erzählen sollen. »Soll ich Doktor Medler anrufen?«
Clara schüttelte den Kopf. »Bleib einfach noch etwas bei mir sitzen.« Dann schloss sie die Augen. Mimi verharrte noch einen Augenblick unschlüssig neben dem Bett, ob sie nicht doch den Arzt rufen sollte. Dann setzte sie sich vorsichtig zurück auf die Kante und wartete, bis Clara eingeschlafen war. Schließlich löschte sie das Licht der Nachttischlampe. »Wenn es dir recht ist, würde
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