Je länger, je lieber - Roman
du, brauche ich dir auch nicht zu erklären, warum ich dich verlasse. Denn: Das ist bereits die Erklärung.«
»Mein Gott! Was verlangst du? Dass ich mich zu keiner anderen Frau hingezogen fühle, wenn meine Frau die ganze Zeit arbeitet und mich nicht mal mehr zu ihren Eröffnungen mitnimmt.«
»Muss ich dich wirklich fragen? Du könntest ja auch einfach mitkommen, so, wie ich dich heute Abend wie selbstverständlich begleitet hätte. Denn obwohl mein Mann arbeitet, manchmal sogar bis spät in die Nacht, gucke ich keine anderen Männer an.«
Damit stieg Mimi in ihren Wagen, schoss rückwärts die Auffahrt hinaus und fuhr dann stadtauswärts, zum Haus ihrer Großmutter. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Was für ein dummer Abgang! Nichts hatten sie geklärt! Nichts! Sie war genauso schlau wie vorher. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie sich dieses Zusammentreffen anders vorgestellt, und zwar so, dass es eindeutig zu ihren Gunsten verlief, dass René sie anflehte, ihr zu verzeihen, dass sie die Oberhand behielt und nicht verantwortlich für diese Misere war. Er liebte sie nicht. Das war’s! Das war die einzige akzeptable Erklärung. Sie schmerzte zwar höllisch, aber nicht so sehr wie die Erkenntnis, das Wertvollste verloren zu haben, weil sie es nicht genug gehütet und beschützt hatte.
6
Cadaqués, 1928
Jacques und sein Vater standen auf dem sandigen Hof vor dem aus Felsstein errichteten Haus, das inmitten der Weinberge lag. Die Sonne verschwand sattrot hinter den sanften Hügeln, die ihre Existenz bedeuteten. Von Ferne hörten sie die Möwen in der Bucht über den Felsen rufen. Für Jacques klang es wie ein wehmütiges Lebewohl. Am Morgen war das Mädchen mit den blonden Locken über das Meer in seine ferne Heimat aufgebrochen. In einem Jahr erst würde sie zurückkommen. Ein Jahr lang würden sie einander nicht sehen. Ein ganzes Jahr.
Jacques blinzelte in den orangeroten Lichtstreif am Horizont, der sich über die hügelige Landschaft bis zu ihm und seinem Vater entrollte und das lang gestreckte Haus und den Hof mit warmem Schimmer überzog. Bevor er heute früh mit den Arbeitern in die Weinberge gezogen war, war er im dunstigen Sonnenaufgang mit dem Karren hinunter zum Hafen gefahren, um sich noch einmal von Clara zu verabschieden. Aber eigentlich, um ihr zu sagen, dass er auf sie warten würde. Sie hatte auf ihre ganz eigene Art gelächelt. So, als hätte er das gar nicht sagen müssen. So, als hätte sie das schon gewusst. Sie lächelte nicht wie ein kokettes Mädchen. Nicht wie Daria, die sich ihrer Schönheit bewusst war und die Männer mit ihrer Anmut um den Finger wickelte. Clara lächelte wie das Leben selbst. Wie der Sand, auf dem die Wellen brandeten. Wie der Wind, der über ihr niedliches Gesicht strich. Wie das Luftanhalten unter Wasser. Wie der Schatten, den die Olivenbäume warfen. Wie die Trauben, aus denen seine Familie den Wein gewann.
Hinter ihm seufzte sein Vater Aurelio und hielt das wettergegerbte Gesicht in die letzten Lichtstrahlen des Tages. »Muchas gracias, Casado! Estoy en deuda con usted.« Ich stehe in deiner Schuld. Das sagte er an jedem Abend während der Erntezeit. Es war ein Gebet, das jenem Mann Dankbarkeit zollte, der ihnen in der Not die Existenz, vielleicht sogar das Leben gerettet hatte. Wäre Emilio Casado nicht gewesen, hätten sie damals vor fünfzehn Jahren ihr Land verlassen müssen, als die Reblaus über die Weinstöcke herfiel. Wie aus dem Nichts waren die winzigen Tierchen gekommen und hatten innerhalb kürzester Zeit den gesamten Landstrich ruiniert. Nichts war den Bauern geblieben. Nichts als verdorrte Stöcke, die einmal stolze Weinreben gewesen waren. Schwarz und kahl hatten die Hügelketten der Gegend ausgesehen, wie nach einem Brand. Einige der Bauern hatten sich als Fischer verdingt, viele waren ausgewandert. Emilio Casado aber, der seinen Wein nur von Aurelio bezog, hatte ihnen Geld geborgt. Einen berühmten Mann wie ihn mochte die Summe nicht geschmerzt haben, aber ihnen hatte sie geholfen, die Not zu überstehen. Nun fuhr die Familie wieder volle Ernte ein.
Während der heutigen Weinlese hatte es Jacques geschafft, sich von der Sehnsucht nach dem Mädchen abzulenken. Schneller als alle anderen hatte er seine Kiepe hinunter zum Kelterkeller getragen und war dann wieder hinauf in die Weinberge gehastet. Nun brachte die Stille des ausgehenden Tages in ihm einen feinen Abschiedsschmerz zum Klingen. Als fehlte ihm etwas. Als wäre ihm etwas
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