Je länger, je lieber - Roman
Hatte das Bild mit den Jungen am Ende auch mit ihr zu tun? Würde sie, anders als sie anfangs gedacht hatte, auf dieser Reise auch noch etwas über sich und ihren Vater erfahren? Wie viele Geheimnisse gab es eigentlich in ihrer Familie?
Mimi ging langsam die Treppe hinunter, durch die Küche und setzte sich unter die Rotbuche ins trockene Gras. Sie würde sich gedulden.
44
Waldblütenhain, 2013
»Hättest du ihn nicht persönlich geflogen, wäre er nie bereit gewesen, die Reise hierher anzutreten.« Mimi legte ihre Arme um Brunos Hals und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, von denen sie ihre gesamte Jugend hindurch geträumt hatte. Sie standen in der kühlen Halle, hinter den Fenstern wiegten sich die herbstlichen Erlen. Erst vor zwanzig Minuten waren sie gemeinsam mit Jacques in Brunos Auto vom Flughafen durch den Wald Richtung Waldblütenhain gefahren.
Längst bedeutete für Mimi ein dunkler Wagen vor dem Haus nicht mehr, dass ein Bote eine furchtbare Nachricht überbrachte. Er bedeutete, dass ihr Mann zu Hause war. Ihre erste Liebe, die sie für Jahre aus den Augen verloren hatte. Jahre, in denen sie wichtige Erfahrungen gesammelt hatte, die sie zu der Frau hatten reifen lassen, die nun bereit war, wirklich zu lieben, die erfahren hatte, was es bedeutete, sich einander ganz und gar anzuvertrauen.
Es war gerade zwei Monate her, am Ende des Spätsommers, als sie Bruno noch direkt aus Arles angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass sie Jacques gefunden habe und dass sie ihm dankbar für seine Hilfsbereitschaft und seinen Glauben sei, dass sie das Richtige tue. Dann hatte sie ihn um Verzeihung gebeten, dass sie ihn in Lunenburg einfach so hatte gehen lassen, und ihm gestanden, dass er sie seitdem in ihren Gedanken stets begleitet hatte.
Liebevoll strich er ihr jetzt eine blonde Haarsträhne aus der Stirn, während hinter ihnen in der Küche Margarete vor Aufregung mit den Töpfen klapperte. »Sie wird uns vor Überanstrengung noch umkippen«, flüsterte Bruno und verdrehte die Augen. »Typisch meine Mutter.«
»Ich hab schon gefragt, ob ich ihr helfen kann, aber sie hat mich sofort aus der Küche gescheucht«, wisperte Mimi zurück.
Margarete wollte Jacques ein regelrechtes Festtagsmenü auftischen und ihn so davon in Kenntnis setzen, dass er viel früher hätte in Waldblütenhain erscheinen müssen, um in den Genuss ihrer Kochkünste zu kommen. Bruno und Mimi traten ans Fenster und sahen die orangegelbe Erlenallee bis zu dem geöffneten Tor in der hohen Felssteinmauer hinunter, deren dichter Efeubewuchs sich leuchtend rot gefärbt hatte. »Wenn er nicht gleich aus dem Wald heraustritt, müssen wir ihm entgegengehen«, murmelte Mimi leicht beun ruhigt.
Sie hatten Jacques, auf dessen unbedingten Wunsch hin, etwa einen halben Kilometer vor dem Anwesen auf dem holprigen Waldweg aus Brunos Wagen steigen lassen. Er wollte zu Fuß durch den Wald nach Waldblütenhain kommen. So, wie Clara und er es sich einst vorgestellt hatten.
»Er wird schon kommen.« Bruno legte den Arm um sie und zog sie fest an sich. »Alte Menschen haben einen erstaunlichen Lebenswillen, wenn es darum geht, unabgeschlossene Geschichten zu vollenden.«
Ja, diese alten Menschen hatten einen unglaublichen Lebenswillen. Nachdem Mimi damals aus Arles zurückgekehrt war, hatte sie als Erstes Clara im Krankenhaus aufgesucht, um ihr zu erzählen, dass sie Jacques gefunden hatte. Sie hatte die Hand ihrer schlafenden Großmutter gehalten und ihr gesagt, dass sie nun die ganze Geschichte kannte. Von all den vergeblichen Versuchen, Kontakt zueinander aufzunehmen, von den Schicksalsschlägen, den Verlusten, den Enttäuschungen und Schuldgefühlen. Wie eins zum anderen geführt hatte. Und was es mit dem Gemälde mit den beiden badenden Jungen auf sich hatte. Jacques hatte ihr alles erzählt. Sogar vom Tod des kleinen Jakob, und dass Mimi genau genommen gar nicht Claras Enkelin sei. Sie hatte ihrer Großmutter den kleinen Kompass in die Hand gelegt und darauf vertraut, dass Menschen, die im Koma lagen, vielleicht nicht die Worte hörten, aber dennoch die Bedeutung des Gesagten aufnahmen und verstanden. Sie hatte mit dem Versprechen geschlossen, dass Clara für sie immer die Großmutter bleiben würde, die sie bis jetzt für Mimi gewesen war. »Und«, hatte sie versprochen, »Jacques wird schon sehr bald nach Waldblütenhain kommen. Wenn du und dein Herz nur wieder bereit seid durchzuhalten.« Mimi hatte gesehen, wie sich Claras greise Finger
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