Je länger, je lieber - Roman
ich gern ein bisschen bei dir wohnen«, flüsterte sie. »So, wie früher. Als ich niemanden mehr hatte außer dir.«
Nachdem Margarete sich ins Gesindehaus verabschiedet hatte, wo sie am Ende der Obstwiese am Bachlauf wohnte, blieb Mimi noch ein paar Minuten in der Dunkelheit sitzen. Anschließend klappte sie an beiden Seiten des Bettes die Barrieren hoch, damit ihre Großmutter nicht herausfallen konnte, und zog sich leise ins stille Haus zurück.
8
Waldblütenhain, 1928
In hochgekrempelten Hosen zerrte Clara den alten Kahn vom Ufer in den Bachlauf. Die Mittagssonne flimmerte durch die Zweige der Apfelbäume, hinter denen das Herrenhaus aufragte. Sie sprang ins Boot und paddelte los, hinüber zum Seerosenfeld, das im Schatten der umstehenden Bäume still auf der Wasseroberfläche lag. Sie war wieder zu Hause, und doch wirkte die gewohnte Umgebung mit einem Mal viel lebendiger als je zuvor. Nachdem sie ihren Eltern beim Frühstück von ihren Erlebnissen in der Ferne und ihren künstlerischen Fortschritten berichtet hatte, wollte sie hier in diesem Strudel aus gleißendem Licht, unterschiedlichster Blätterformen und Grüntönen endlich einen Brief an ihre Freundin Daria schreiben. Sie musste ihr von ihrem wundersamen Erwachen in diesem Gefühlsrausch erzählen, der alles, was sie sah, in pure Schönheit verwandelte. Niemand hatte ihr je von dieser überwältigenden Pracht berichtet, die allen Dingen innewohnte. Ihre einstige Welt, ihr Waldblütenhain, verzauberte sich vor ihren Augen. Und in dieser neuen, paradiesischen Welt schlug ihr Herz vor Überwältigung heftiger.
Es war Jacques, der sie in diese einzigartige Schönheit geschickt hatte, und irgendwann würde er ihr in dieses Paradies folgen. Zum Abschied am Hafen hatte sie ihm ihren Kompass geschenkt, damit er zu ihr fand. Sicherlich, zum einen paddelte sie auf ihrem altbekannten Bachlauf, auf dem sie als Kind schon hunderte Male gepaddelt war. Noch immer stachen die Mücken in ihre Arme. Noch immer sprangen die Frösche vom Ufer ins seichte Wasser. Und doch hatte sich ihr Blick darauf geändert. Der Bewuchs, die Geräusche, der Duft, die Farben und Formen, alles schien von überbordender Klarheit und Vitalität. Sie konnte die Geräusche fühlen, die Farben riechen, die Pflanzen wispern hören.
Waldblütenhain hatte sich in jenen magischen Ort verwandelt, der die Menschen zum Strahlen brachte, sobald sie ihn betreten hatten, und in tiefe Trauer stürzte, wenn sie ihn wieder verlassen mussten. Konnte es Clara gelingen, diesen Ort nie wieder verlassen zu müssen? War das möglich? Wann würde Jacques ihr hierher folgen? Würde er kommen, wenn sie ihn bat? Hatte sich auch seine Welt vor seinen Augen in ein Paradies verwandelt? Sah er mit einem Mal die gleiche Schönheit? Fühlte auch er diese einzigartige Lebendigkeit? Schlug sein Herz nun auch heftiger? War das Liebe? Das alles musste sie Daria fragen.
Sie würde es wissen.
Sie wollte ihrer Freundin von der Begegnung mit Jacques im Atelier schreiben. Drei Tage war es erst her! Drei unendlich lange Tage, die sie an der Reling des Dampfers, mit Blick in die flaschengrünen Wellen, verbracht und an Jacques gedacht hatte. An seine Augen, seine gebräunten Hände, als er ihr das Jelängerjelieberpflänzchen überreicht hatte. Nachts in der Kabine hatte sie seine Stimme im Schlaf gehört. Sie hatte ihn lachen sehen. Und sie wollte Daria von seinem Auftauchen am Hafen erzählen und fragen, ob Daria für ihren Jungen das Gleiche empfand.
Erst vor drei Tagen, im Morgengrauen, hatte die Haushälterin Selena sie zum Aufbruch gedrängt. Ohne dass sich Clara überhaupt noch von ihrer besten Freundin oder ihren Eltern hatte verabschieden können, hatte Selena draußen unter den Olivenbäumen ihren Koffer auf den Eselskarren gehievt und das müde Tier mit einem Stock Richtung Straße angetrieben. »Vamos! Vamos!«
Dabei war es noch gar nicht so spät gewesen.
Clara war hinterhergelaufen und hatte Selena nach dem Grund für ihre Eile gefragt. Doch die rundliche Haushälterin war mürrisch voranmarschiert, als hätte sie nichts gehört. Ihr schwarzes Hauskleid, der strenge Dutt unterm Strohhut, ihr entschiedener Schritt zwischen den Agaven und Kakteen hindurch hatten Clara schließlich aufgeben lassen. Stattdessen war sie dazu übergegangen, leise und tröstend auf den jammernden Esel einzureden, den Selena hinter sich hergezerrt hatte. So waren sie über die weich geschwungenen Hügel zum Hafen hinuntergelaufen. In
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