Je länger, je lieber - Roman
war ihre beste Freundin. Sie hatten sich geschworen, das eigene Leben für die andere zu opfern. Wer also war es, in den Daria verliebt war? Würde sie Clara noch den Namen des Jungen erfahren, bevor sie morgen mit dem Schiff nach Deutschland zurückkehrte?
Plötzlich schlug unten die Haustür. Waren Casado und seine Frauen schon zurück? So schnell? Unten am Fuß der Treppe hörte sie Daria und Gala miteinander flüstern. Lautlos glitt Clara über den Kokosteppich zur angelehnten Ateliertür. Irgendetwas musste passiert sein. Mit angehaltenem Atem blickte sie um die Ecke. Unten stand Gala in weißer langärmliger Bluse und bodenlangem, schmalem Rock. Aufgeregt wedelte sie sich mit ihrem Fächer Luft zu. Ihre Tochter kauerte vor ihr auf dem Teppich, den Strohhut auf den Knien. Ihr Körper wurde durch heftige Schluchzer erschüttert.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, wisperte Gala fassungslos.
Für einen Augenblick war es unerträglich still im Haus. Darias Schultern zitterten. Statt einer Antwort kam ein schmerzerfülltes Schluchzen. Noch nie hatte Clara ihre Freundin in diesem Zustand gesehen. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie die Stufen hinunter. Bevor sie wieder hinter dem Türrahmen verschwinden konnte, hob Daria ihren Kopf mit dem in Wasserwellen gelegten dunklen Haar und sah Clara aus verweinten Augen an, als flehte sie um Hilfe. Ihr Blick ließ Clara erschaudern. Es war der entsetzte Blick einer Todgeweihten.
Draußen auf dem Hof waren Schritte zu hören, die über den weißen Kies eilten. Sofort raffte Gala ihre Röcke und war schon dabei die Treppe hinaufzuflüchten. Gerade noch gelang es Clara, sich ins Atelier zurückzuziehen und sich hinter der Staffelei zu verstecken. Ihr Herz raste. Hoffentlich entdeckte Gala sie nicht! Sie konnte sehr unangenehm werden, wenn sie aufgebracht war. Doch sie rauschte an der offenen Ateliertür vorbei ins Schlafzimmer, wo die Kanarienvögel in ihrem Käfig aus Bambusrohr aufgeregt zwitscherten.
Die Tür fiel mit einem Knall ins Schloss.
Clara starrte auf die weiße Leinwand. Sie musste so schnell wie möglich aus dem Atelier verschwinden, bevor Casado kam. Noch hatte sie keine Spuren hinterlassen. Unten im Haus war seine dröhnende Stimme zu hören. »Gala?«
Kurz darauf eilte der Künstler in seinem hellen Leinenanzug am Atelier vorbei, wo er seine Schülerin sitzen sah. Clara hielt die Luft an. Aber er sagte nichts, sondern nickte ihr nur kurz zu. Einen Augenblick später tauchte Daria mit verquollenem Gesicht in der Tür auf. Zögernd kam sie näher und stellte sich neben das Regal mit den Farbtöpfen und Pinseln. Sie lächelte sanft. »Ola, mia baja brava hada.«
»Ola, Daria.« Clara lächelte nun auch. Sie mochte es, wenn Daria sie so nannte: kleine mutige Fee. Von außen wirkte sie wieder ganz ruhig. »Darf ich mir was wünschen?« Daria kam näher und hockte sich neben Clara. Ihr dunkles, welliges Haar schimmerte im Licht, als sie ihren Kopf auf Claras Schoß legte.
»Ja, bitte! Wünsch dir was.« Clara strich ihr sanft über das Haar. Sie würde alles für ihre Freundin tun. Doch nur unter einer Bedingung.
»Un ángel«, flüsterte Daria. »Mal mir einen Engel, meine kleine unschuldige Fee.«
»Sagst du mir dann, in wen du verliebt bist?«, flüsterte Clara zurück und spürte, wie Darias gesamter Körper augenblicklich erstarrte.
2
Waldblütenhain, 2013
Mimi stand mit dunklen Ringen unter den Augen in der spärlich erleuchteten Eingangshalle der Villa und starrte abwesend auf das Gemälde, das ihre Großmutter als junges Mädchen bei einer befreundeten Künstlerfamilie in Spanien gemalt hatte. Es zeigte einen Engel im schneeweißen, bodenlangen Kleid mit schwarzem, welligem Haar, das ihm wie flüssiger Teer über die Schultern glitt. Seltsames Haar für einen Engel, dachte Mimi. Normalerweise hatten die doch goldenes. Seit ihrer Kindheit gruselte sie sich vor diesem Bild. Als würde es ein düsteres Geheimnis verbergen, das es auch beim intensiven Betrachten nicht bereit war zu lüften. Unter dem schweren Goldrahmen wucherten wilde Blumenranken hervor, die sich um den hilflosen Engel schlangen. Die Ranken beherrschten die Fläche mit solch einer Kraft, als wollten sie sich irgendwann im ganzen Haus ausbreiten.
Mimi fröstelte. Es war weit nach Mitternacht. Sie war müde. Sie wollte nach Hause ins Bett, stattdessen stand sie hier in dem größtenteils unbewohnten Haus ihrer Großmutter herum, das auf einer Lichtung mitten im Wald lag.
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