Je länger, je lieber - Roman
von ihr grüßen. Daria sollte ihm sagen, dass Clara sein Pflänzchen in einen Topf gepflanzt hatte, das jetzt auf ihrem Fensterbrett im Zimmer stand, bis es stark genug war, dass sie es draußen aussetzen konnte. Daria sollte ihm sagen, dass es in Claras Zimmer nach ihm duftete. Nach Milch und Honig. Clara nahm den Füllfederhalter und klappte ihren Schreibblock auf. In den Baumkronen raschelte die sanfte Brise des heißen Sommertages. Die bläulich schimmernden Libellen sirrten dicht über den Bachlauf hinweg. Hier würde sie auf ihn warten, an diesem magischen Ort.
9
Waldblütenhain, 2013
Als Mimi am Morgen in T-Shirt und Sommerrock in die Halle herunterkam, hielt sie das kleine Kirschholzkästchen mit dem goldenen Kompass in der Hand. Glücklicherweise hatten das Kästchen und sein wertvoller Inhalt den Sturz vom Nachtschränkchen schadlos überstanden. Mimi hatte das Holz genau begutachtet, um nicht den feinsten Haarriss zu übersehen. Dabei war ihr auf dem Boden ein von Hand eingeritzter Name aufgefallen: Jacques. Hatte sie Clara doch seinen Namen flüstern hören? Wer war dieser Jacques? War das sein Kompass? Hatte er ihn Clara geschenkt? Warum klammerte sie sich nachts an dieses Kistchen, als befände sie sich weit draußen auf offener See? Mimi sprang die letzte Stufe der Treppe hinunter. Es war seltsam still. Als wäre sie die Einzige im Haus. Der Salon war leer. Clara lag nicht in ihrem Bett. Ihre Pantoffeln standen ordentlich darunter.
Wo war sie? Wo war Margarete?
Die Küche sah unberührt aus. Die Kupfertöpfe hingen poliert über dem Herd, die Stühle waren an den Holztisch gerückt. Auf den blau-weißen Wandkacheln flimmerten die Lichtreflexe der Bäume, die vor den hohen Fenstern standen. Eigenartig. In den letzten Wochen hatte sich ihre Großmutter nie mehr als ein paar Schritte vom Bett entfernt. Schon gar nicht ohne Pantoffeln. War etwas passiert? Hatte ihre Großmutter nachts nach ihr gerufen? Wenn ja, hätte Mimi sie nicht gehört. Um nicht von ihren Gedanken an René wach gehalten zu werden, hatte sie eine Tablette genommen.
Eilig wandte sie sich um und lief durch den Wintergarten, unter den Apfelbäumen hindurch, Richtung Gesindehaus, wo Margarete seit einer Ewigkeit wohnte. Das Haus stand direkt am Bachlauf, der in den Waldsee mündete, und schien unter seinem verwitterten Mansardendach fast erdrückt zu werden. Sein bröckliges Gemäuer wurde von dichten Efeuranken überdeckt, nur die Butzenscheibenfenster spähten wie lauernde Augen in den Garten hinaus. Rechts vom Haus, unter einem Verschlag, wartete eine alte Kutsche seit Jahren auf ihren Einsatz. Hunderte von Spinnen und Käfern hatten hier ihr Zuhause gefunden, Generation um Generation großgezogen und in die Welt der Obstwiese hinausgeschickt.
Mimi lief durch das hohe Gras und klopfte an die windschiefe Holztür. Drinnen rührte sich nichts. Was war hier los? Gerade als sie sich hinter den Himbeersträuchern an der rückwärtigen Hauswand zur Garage schlängeln wollte, um zu sehen, ob der alte petrolfarbene VW-Käfer ihrer Großmutter verschwunden war, hörte sie hinter sich Margaretes entsetzte Stimme: »Mein Gott! Mimi! Was haben Sie vor?«
In der Bewegung riss sie sich an den Dornen ein Loch in ihr T-Shirt. Eine Haarsträhne blieb in den wirren Zweigen hängen. »Ich suche dich!«
Die alte Haushälterin stand da, mit einem Imkerhut auf dem Kopf und Schutzhandschuhen an den Händen, wie ein Astronaut, der versehentlich zwischen den Apfelbäumen gelandet war. Hinter dem Netz ihres Hutes machte sie ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich war drüben bei den Bienen.«
Mimi kämpfte sich zurück. Die hagere Haushälterin nahm den Hut ab und zog die Handschuhe aus. Sie wirkte seltsam nervös. Ohne Mimi anzusehen, stieß sie mit einer ungelenken Bewegung die Tür zu ihrem Zuhause auf. »Haben Sie Hunger?«
Mimi trat näher heran. »Wo ist Clara? Sie liegt nicht in ihrem Bett.«
Margarete warf einen beunruhigten Blick zwischen den Apfelbäumen hindurch, Richtung Haupthaus. »Kommen Sie herein. Dann erzähle ich Ihnen alles.«
Doch Mimi blieb stehen. Sie wollte sofort wissen, was passiert war. Herausfordernd sah sie die Haushälterin an. »Was ist hier los?«
Endlich schwebte Margaretes Blick zurück zu Mimi. Sie machte eine hilflose Handbewegung. »Ich habe sie heute früh mit einer kleinen Platzwunde am Kopf auf dem Boden neben dem Bett liegend gefunden und den Notarzt gerufen. Ich habe Doktor Medler nicht erreichen
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