Je mehr Löcher, desto weniger Käse
langsamer als bei der 1 und bei der 9. Die Reaktionen wurden im Verlauf des Experiments zwar schneller, aber der Unterschied in den Reaktionszeiten bei 4 oder 6 im Vergleich zu 1 oder 9 änderte sich nicht.
Dehaene fragte sich, wie dieses Ergebnis zu deuten war. Seine Schlussfolgerung: Das Gehirn nutzt beim Vergleich zweier Zahlen offenbar keine abgespeicherte Tabelle, in der beispielsweise steht, dass 6 größer als 5 ist. Wäre dies der Fall, würden die Entscheidungszeiten nämlich nicht vom Abstand der Zahlen abhängen. Die einzig schlüssige Erklärung ist eine Art Zahlenstrahl im Kopf. Irgendwo in den Furchen und Windungen des Gehirns, mutmaßt Dehaene, müsse es eine Art Analogdarstellung der arabischen Ziffern geben.
W ie bringt ein Mathematiker seinen Kindern gutes Benehmen bei? »Ich habe euch n-mal gesagt, ich habe euch n + 1-mal gesagt …
Das Ganze kann man sich vorstellen wie ein schon etwas abgegriffenes Maßband einer Schneiderin. Um zu entscheiden, ob 9 größer ist als 1, reicht ein kurzer Blick darauf. Bei 5 und 6 muss man schon genauer hinschauen, welche Zahl weiter rechts auf dem Band steht – unter Umständen kann man das auch nicht mehr gut erkennen.
Einen überzeugenden Beleg für die Existenz des Zahlenstrahls lieferte ein weiteres Experiment. Diesmal wurden den Probanden zweistellige Zahlen zwischen 31 und 99 angezeigt, und sie mussten entscheiden, ob die Zahlen größer oder kleiner als 65 waren. Hier zeigte sich: Je näher man der 65 kommt, umso länger sind die Reaktionszeiten.
Die Vermutung, dass dabei womöglich die Zehnerstellen eine entscheidende Rolle spielen, bestätigte sich allerdings nicht. Tatsächlich fiel die Entscheidung bei 71 und 65 etwas schneller als bei 69 und 65. Die Reaktionszeit war aber noch kürzer, wenn es um das Zahlenpaar 79 und 65 ging. Ein klarer Beleg dafür, dass nicht etwa ein Sprung in der Zehnerstelle, sondern der tatsächliche Abstand zu 65 entscheidend ist für die Dauer der Entscheidung.
Unser Zahlenstrahl im Kopf hat noch eine weitere interessante Eigenschaft: Seine Skala ist nicht linear, wie man das vielleicht erwarten würde, sondern offensichtlich logarithmisch. Das heißt, der Abstand zwischen 1 und 10 ist genauso groß wie zwischen 10 und 100.
Weil unsere innere Skala bei größeren Werten regelrecht zusammengedrückt ist, nehmen wir Unterschiede zwischen Zahlen nicht absolut wahr, sondern relativ. Der Abstand zwischen1 und 2 ist daher gefühlt größer als jener zwischen 11 und 12, obwohl die Differenz in beiden Fällen jeweils 1 ist.
Dieses Prinzip hilft uns auch, große Mengen miteinander zu vergleichen. Wenn wir den Unterschied zwischen 10 und 13 Schafen erkennen, dann gelingt uns dies auch bei 20-mal so großen Herden mit 200 und 260 Schafen.
Der Logarithmus in uns
Der deutsche Physiologe Ernst Heinrich Weber (1795–1878) hat einen solchen Zusammenhang – das Weber’sche Gesetz – schon vor mehr als 170 Jahren entdeckt: Der Mensch nimmt die Welt logarithmisch wahr. Das gilt nicht nur für Punktmengen oder Schafe, sondern auch für unsere Sinne, etwa das Fühlen von Druck- oder Temperaturunterschieden.
Ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie haben zwei unterschiedlich schwere Schokoladentafeln. Die eine wiegt 100 Gramm, die andere 103 Gramm. Sie können die 3 Gramm Unterschied wahrscheinlich tatsächlich spüren. Dann bekommen Sie zwei Gewichte von 1000 und 1003 Gramm. Hier merken Sie keine Differenz, die beiden Gewichte fühlen sich gleich schwer an. Jetzt tauschen Sie das 1003-Gramm-Stück gegen eines mit 1030 Gramm. Und siehe da: Jetzt merken Sie den Unterschied.
Unsere interne logarithmische Skala verrät sich auch bei einem einfachen Gedankenexperiment. Aus dem Zahlenraum zwischen 1 und 2000 hat ein Zufallsgenerator zweimal zehn Zahlen ausgewählt. Welche der beiden Reihen ist gleichmäßiger über das Intervall von 1 bis 2000 verteilt?
A 868 7 456 1089 667 1433 1988 232 1678 1266
B 4 155 345 599 19 1566 1067 66 733 1988
Halten Sie auch B für die bessere Reihe, weil Ihnen die Zahlen gleichmäßiger gestreut vorkommen? In Folge A scheint es viel zu viele große Zahlen zu geben. Der Eindruck ist jedoch falsch. In der Reihe A haben die Zahlen einen Abstand von etwa 200. Das sieht man sofort, wenn man die Zahlen der Größe nach sortiert: 7 232 456 667 868 1089 1266 1433 1678 1988
In der Reihe B häufen sich die Zahlen in den Intervallen 1–100 und 1–1000, oberhalb 1000 gibt es nur noch drei Zahlen. A ist also
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