Jeans und große Klappe
nahezu alles verstehen kann. Es drückt je nach Betonung Erstaunen aus oder Zweifel, kann »Ich habe nicht verstanden« bedeuten oder »Wie meinen Sie das?«, und im Tonfall tiefster Befriedigung geäußert heißt es: »Na also, ich hatte doch recht!«)
Allmählich taute Bettina aber auf und ließ sich sogar manchmal zum Essen einladen. Allerdings nur, wenn es etwas gab, das sie kannte. Sehr viel kannte sie nicht.
Bettinas Vater ist ziemlich wortkarg und hält die Bemerkung, daß es endlich einmal regnen müsse, für ein erschöpfendes Gespräch. Wenn ich dann auch noch pflichtschuldig erwidere, daß der Regen in der Tat notwendig sei, haben wir nach Ansicht von Herrn Friedrich eine ausgiebige Unterhaltung geführt.
Bettinas Mutter ist der Prototyp einer schwäbischen Hausfrau. Ganz gleich, ob man morgens um sieben oder abends um acht ihre Wohnung betritt, niemals wird man eine herumliegende Zeitung oder gar einen vergessenen Hausschuh finden. Alles ist blitzsauber, tipptopp aufgeräumt, jedes Ding steht an seinem Platz, und ich habe immer den Eindruck, als habe gerade ein Fotograf Aufnahmen für den neuen Möbelkatalog gemacht.
Unlängst wollte ich mir von Frau Friedrich ein Buch ausleihen, von dem ich wußte, daß sie es besitzt. »Wissen Sie ungefähr, wie groß das ist?«
»Wie groß? Keine Ahnung, aber der Name des Autors fängt mit K an.«
Viele Leute ordnen ihre Bibliothek nach dem Alphabet. »Das nützt mir gar nichts«, sagte Frau Friedrich, »ich stelle die Bücher immer der Größe nach, sonst sieht es so unordentlich aus.«
Das gesuchte Werk fanden wir schließlich zwischen »Rebekka« und der kleinen Kräuterfibel. Es hatte eine mittlere Größe.
Zwei Häuser neben Friedrichs wohnte das Ehepaar Rentzlow nebst Tochter Andrea. Er war Oberarzt in einem der umliegenden kleinen Krankenhäuser und mit dem Versprechen geködert worden, in absehbarer Zeit zum Chefarzt avancieren zu können.
Herr Dr. Rentzlow war Anhänger der antiautoritären Erziehung und seine sechsjährige Tochter ein abschreckendes Beispiel dafür. Es gab nichts, was sie nicht durfte. Folglich durften ihre Freunde das auch.
Nun soll meinethalben jeder seine Kinder erziehen, wie er will. Problematisch werden die widersprüchlichen Auffassungen allerdings dann, wenn die eigenen Kinder häufig Gäste bei antiautoritär aufwachsenden Altersgenossen sind und die dortigen Sitten und Gebräuche auch zu Hause einführen wollen.
»Andrea braucht nie Erbsen zu essen!« Nicki läßt das beanstandete Gemüse einzeln vom Messer rollen und drapiert es kranzförmig um den Teller. Katja greift sich ein Kügelchen, schießt es zielsicher auf die Frikadelle und ruft strahlend: »Tor!« Die nächste Erbse wird von Nicki auf den Tellerrand geschnipst: »Einwurf!« Das weitere Tischgespräch führe ich allein!
»Andrea darf in ihrem Zimmer machen, was sie will«, heult Katja, als ich schimpfend ihr Wasserfarbengemälde von der Fensterscheibe wische.
»Andreas Mutter regt sich niemals auf, warum bist du immer gleich so wütend?« will Nicki wissen und rückt nur widerwillig meinen nagelneuen Lippenstift heraus, mit dem sie eine Schatzgräberkarte auf den Garagenboden gemalt hat.
»Andreas Papa würde über so was nur lachen«, kriege ich vorwurfsvoll zu hören, als ich Katja dabei erwische, wie sie ihren Orangensaft mit einem alten Taschenkamm umrührt.
Da hakte es bei mir aus. »Es ist mir völlig schnurz, was Andreas Vater sagt oder tut, und es ist mir piepegal, was Andrea sagt oder tut, ihr tut das jedenfalls nicht! Könnt ihr euch nicht eine andere Freundin suchen?«
Zumindest Frau Rentzlow schien von den positiven Auswirkungen der modernen Erziehung wohl auch nicht ganz überzeugt gewesen zu sein. Einmal ging ich an ihrem Haus vorbei und sah, wie die liebe Andrea den großen Blumenkübel neben der Eingangstür mit einem Hammer bearbeitete. Es klirrte auch prompt, worauf Frau Rentzlow erschien, ihrer Tochter eine Ohrfeige verpaßte und wütend schrie: »Jetzt reicht's mir aber, du bekommst kein Brüderchen mehr!«
Bevor die Zwillinge auch noch die letzten Reste eines zivilisierten Benehmens verloren hatten, zogen Rentzlows weg. Der Herr Oberarzt hatte sich davon überzeugen lassen, daß sein derzeitiger Chef außerordentlich vital und vom Pensionsalter noch anderthalb Jahrzehnte entfernt war. Auf ein außerplanmäßiges Ableben zu hoffen, verbot sich schon allein aus berufsethischen Gründen, und so beschloß Herr Dr. Rentzlow, lieber ein
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