Jede Sekunde zählt (German Edition)
ruft, dann mach ich’s. Das war nicht in Ordnung«, tönte seine Stimme vom Mast zu uns herab.
Aufgrund solcher Abenteuer bin ich inzwischen vorsichtiger geworden, wenn ich in und um Austin herum mit dem Rad unterwegs bin. Heute trainiere ich nur noch, wenn jemand mit dem Auto oder Motorrad hinter mir her fährt und mich vor Lastwagen, Steinen und Verrückten in ihren Pick-ups schützt. Ich kann es mir nicht leisten, von irgendeinem Deppen, der von hinten kommt, verletzt oder angefahren zu werden.
Trotzdem mache ich noch gerne mit Freunden Ausfahrten auf abgelegenen Straßen. Wir fahren, wir denken laut, und wir reden. Einmal, ich war mit College unterwegs, unterhielten wir uns über Risikobereitschaft und Leichtsinn und den Unterschied zwischen beidem. Was ist noch eine Herausforderung und was bereits schlicht idiotisch? Als Profi halte ich das, was ich auf meinem Radoder mit meinem Körper mache, nicht für sonderlich riskant. Im Umgang mit meinen Gliedmaßen bin ich ein Experte, und was anderen riskant erscheinen mag, ist für mich alltäglich. Lastwagenfahrern hinterher jagen dagegen ist schierer Mutwille.
»Ich werde dir jetzt eine fiktive Situation beschreiben«, sagte College. »Du stirbst. Luke hat keinen Vater.«
Er versuchte ganz offensichtlich, mir Angst zu machen. Ich sagte nichts.
»Und deine Zwillinge wachsen auf, ohne dich je wirklich kennen gelernt zu haben.«
Ich dachte darüber nach.
»Hör mal«, sagte ich schließlich. »Damit eins ganz klar ist: Niemand bringt mich um.«
College warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Ladys and Gentlemen, darf ich vorstellen: Lance Armstrong.«
Er hatte natürlich Recht, aber ich hatte keine Lust, ihm den Gefallen zu tun, das auch zuzugeben. Die Wahrheit ist, dass ich mich vielleicht gar nicht wirklich verändert habe, dass ich vielleicht niemals den richtigen Ausgleich zwischen Risiko und Vorsicht finden werden. Aber ich versuche, vorsichtiger zu sein, und meine Vorsicht nimmt proportional zur Zahl der Menschen zu, die ich liebe. Wenn ich auf dem Rad einen Berg hinunterjage, bin ich heute weniger aggressiv, als ich das einmal war. Früher fuhr ich so schnell ab, dass ich manchmal sogar Autos überholte. Heute mache ich so etwas nicht mehr, heute sehe ich einfach zu, dass ich den Berg heil hinunterkomme, weil mir in meinem Hinterkopf bewusst bleibt, dass ich eine Familie habe. Mit einer Abfahrt kann man kein Rennen gewinnen, aber man kann es verlieren, und man kann auch sein Leben dabei verlieren. Ich habe keine Lust, mein Leben und alles, was ich habe, bei der Abfahrt von einem Berg hinunter zu verlieren.
Um ehrlich zu sein, die Kinder sind nicht der einzige Grund, warum ich inzwischen einen Familienwagen fahre. Ich fahre einen Familienwagen, damit ich nicht mehr so schnell fahre.
Aber manches wird sich nie ändern: Was immer ich mache, ich will das Spiel beherrschen, ich will es gewinnen, und ich will es bis an seine Grenzen ausreizen. Ein defensives und von Ängsten geprägtes Leben ist in meinen Augen ein verlorenes Leben.
Wissen Sie, wann ich sterben will? Wenn ich mit dem Leben fertig bin. Wenn ich nicht mehr gehen, nicht mehr essen, nicht mehr sehen kann, wenn ich ein mürrischer, alter Bastard bin, der mit der ganzen Welt grollt. Dann kann ich sterben.
Vielleicht habe ich als Kind nicht genügend Arschbomben ins Wasser gelegt, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, zu arbeiten, mein eigenes Geld zu verdienen, und weil ich unbedingt aus Plano entkommen wollte. Vielleicht habe ich auch einfach eine andere Vorstellung davon, was Grenzen bedeuten. Wer weiß? Vielleicht gehört es mit zu der Erfahrung, wieder ins Leben eingewechselt zu werden, dass es einen Grenzen anders empfinden lässt als andere Menschen, dass man versucht ist, die Latte noch eine Schwelle höher zu legen. Für mich ist das Leben eine Abfolge von künstlich definierten Grenzen, und meine Herausforderung als Sportler besteht darin, diese Grenzen und Beschränkungen auf einem Fahrrad auszuloten. Als Mensch bestand meine Herausforderung darin, sie im Krankenbett auszuloten. Mag sein, dass der Krebs eine Herausforderung ist, die niemand braucht, aber er war meine Herausforderung.
Ich weiß nur, dass etwas in mir mich dazu drängt zu springen.
Also geht es mir um das Leben. Um das Leben nach dem Krebs. Um das Leben mit Kindern. Das Leben mit Siegen. Das Leben mit persönlichen Verlusten. Es geht um Risiken, es geht um ein Ziel, und es geht um eine Balance. Es
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