Jede Sekunde zählt (German Edition)
Anfragen von Krebspatienten aus allen Teilen der Welt zu beantworten. Sally, die eifrigste freiwillige Mitarbeitern im Büro, verteilte Informationen, Ratschläge und Mitgefühl.
Das Eigenartige war, dass es ewig dauerte, bis wir uns schließlich persönlich kennen lernten. Ich hörte ebenso viel über sie wie sie über mich, aber irgendwie schafften wir es immer, uns zu verpassen, was mit daran lag, dass ich für gewöhnlich nur mittwochs und freitags ins Büro der Stiftung kam, Tage also, an denen sie nie da war. Nach einer Weile fing Sally an zu scherzen, es gebe mich gar nicht. Einmal legte sie mir eine Ausgabe von Tour des Lebens zum Signieren auf den Schreibtisch, anbei eine Notiz auf der stand: »Ich lasse dieses Buch hier, bin mir aber nicht sicher, ob es den Autor gibt.«
Irgendwann fing Sally an, auf einer großen Wandtafel im Zimmer der ehrenamtlichen Mitarbeiter ein Verzeichnis der »Lance-Sichtungen« zu führen. Es gab Spalten für Tag, Ort und Zeitpunkt jeder Lance-Sichtung. Über einer Spalte stand »Augenzeuge«, über der nächsten »Bestätigung der Sichtung« und so weiter. Sallys Liste geriet zum Objekt der ständigen Erheiterung im Büro.
Mit der Zeit füllte sich die Liste mit Lance-Sichtungen. Wann immer ich vorbeischaute, nahmen alle Freiwilligen pflichtschuldig ihre Eintragungen vor, aber Sally und ich verpassten uns trotzdem weiterhin. Selbst der Lieferant, so klagte sie gerne, hätte mich schon gesichtet, nicht aber sie. Als mich eines Nachmittags ihr Ehemann beim Training auf dem Rad sah, erweiterte sie die Liste um eine neue Kategorie: »Sichtung durch Stellvertreter«.Nachdem das ungefähr ein Jahr lang so gegangen war, legte ich ihr schließlich eine Nachricht in ihr Postfach. »Ich bin hier«, stand darauf geschrieben. »Wo bist du?« Darunter fügte ich von Hand noch hinzu: »Wenn sie mich nicht mehr dauernd auf Reisen schicken, wirst du eine Sichtung haben. Im November und Dezember bin ich in Austin. Wie wäre es, wenn wir uns dann treffen?«
Postwendend trug Sally eine neue Spalte auf der Tafel ein: »Lance-Brief-Sichtung«.
Rund einen Monat später kehrte ich nach Austin zurück, fuhr hinüber zur Stiftung und platzte mit dem Ausruf »Wo ist Sally?« ins Zimmer der Ehrenamtlichen.
Und da saß sie. Sie hatte eintausend Stunden in der Stiftung gearbeitet, bevor wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Wir umarmten uns und waren uns sofort sympathisch. Sally war genauso liebenswert und gutmütig, wie ich sie mir vorgestellt hatte, strahlte darüber hinaus aber noch eine ganz bemerkenswerte Sachlichkeit aus. Sie war eine wohlhabende Frau und Mutter, deren Leben nicht nur einmal, sondern dreimal vom Brustkrebs aus der Bahn geworfen worden war; auch bei ihren zwei Schwestern war Brustkrebs diagnostiziert worden. Wir plauderten eine Weile, unterhielten uns über die Stiftung und darüber, wie man Leuten Kraft geben konnte, und, da wir beide uns für schnelle Autos begeisterten, auch über Autos.
Worüber wir niemals wirklich sprachen, war Krebs. Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Vielleicht bestand in der Hinsicht eine Art telepathische Verbindung zwischen uns. Oder vielleicht waren wir es gewohnt, allein mit unseren Gedanken darüber zu sein, da die wenigsten Menschen in unserem Leben diese Erfahrung voll und ganz nachvollziehen können. Vielleicht hatten wir aber auch einfach beschlossen, nicht auf den furchtbaren Erinnerungen herumzureiten. Was wichtig war und ist, ist die Verbindung zwischen uns, und durch Sally komme ich mit anderen in Verbindung. Sie leitet Briefe und besondere Anfragen von allen möglichen Leuten aus der Krebsgemeinschaft an mich weiter undorganisiert Treffen mit ihnen. Wir wissen beide, dass es für jemanden, bei dem Krebs diagnostiziert wurde, eine Quelle der Kraft ist, jemanden zu kennen, der die Krankheit überlebt hat. Gemeinsame Erfahrungen verleihen den Menschen ein Gefühl der Stärke. Geben wir einem Patienten auch nur für fünf Minuten Hoffnung, sagt Sally, dann haben wir das Wichtigste erreicht.
Manchmal ist es die Abwesenheit eines Menschen, die die Frage danach kompliziert, wer wir sind. Bei mir ist es der Vater, den ich niemals kennen gelernt habe. Eddie Gunderson hätte ebenso gut ein anonymer Samenspender sein können. Er verließ meine Mutter kurz nach meiner Geburt und trat alle elterlichen Sorgerechte an sie ab. Meine Mutter und ich haben uns nie über ihn unterhalten. Ich las in der Zeitung, dass er nach der
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