Jede Sekunde zählt (German Edition)
hat. Als er hörte, dass ich das Dead Man’s Hole hinuntergesprungen war, verzog er das Gesicht und hielt mir eine Standpauke, weil das idiotisch gewesen sei und ich mir dabei etwas hätte brechen oder zerren können. Aber noch während er sprach, wusste Bill, dass seine Vorhaltungen nutzlos waren. »Ich werde es wieder tun«, sagte ich. Bill wusste, dass ich es ernst meinte, weil er noch etwas anderes über mich weiß. Er weiß, dass ich die Action brauche.
»Großartig, einfach großartig«, gab er zurück. »Warum strickst du daraus nicht eine Legende?«
Kapitel 2
Ein ganz gewöhnlicher Mensch
I ch bin ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ein ganz gewöhnlicher, hart arbeitender, T-Shirt tragender Mensch. Ein ganz gewöhnlicher, hart arbeitender, komplizierter, T-Shirt tragender Mensch, der hin und wieder die Schnauze voll hat.
Natürlich weiß ich, dass in dieser Selbsteinschätzung ein paar offensichtliche Widersprüche stecken. Und ich kann auch nicht versprechen, sie aufzulösen. Selbst wenn ich meine Psyche Stück für Stück auseinander nehmen und sämtliche Neuronen, die in meinem Kopf feuern, und die von ihnen an meine Muskeln und Organe ausgehenden Befehle erklären könnte, bin ich nicht sicher, ob das weiterhelfen würde. Die Selbstanalyse hat noch nie zu meinen besonderen Stärken gezählt; zum einen dauert sie zu lange, und zum anderen hege ich den Verdacht, dass es ebendie alten Geheimnisse in mir, die Selbsttäuschungen und Wunden aus meiner Kindheit sind, die mich im Leben antreiben, die mich dazu bringen, in die Pedale zu treten.
Gleichzeitig hoffe ich, die Menschen werden verstehen, dass ich bei aller Lust am Wettkampf ein sensiblerer Mensch bin, als das zuzeiten den Anschein haben mag, und dass ich, wenn ich etwas in der Art von »Na und?« vom Stapel lasse, damit in Wirklichkeit meine: »Das berührt mich mehr, als ich es zugeben kann.«
Andererseits weiß ich, dass man es durchaus satt bekommen kann, mich richtig verstehen zu wollen.
Wir alle ahnen nur ansatzweise, warum wir so sind, wie wir sind. Was an uns ist anerzogen, was selbst erworben und was angeboren? Die Frage ist weder einfach zu beantworten, noch können wir sie auf uns alleine gestellt beantworten; wir definieren uns selbst über unsere Beziehungen zu anderen, zu unseren Eltern, Freunden, Gegnern, Chefs, Kindern. Den Krebs zu überleben hat mich gelehrt zu erkennen, wie sehr ich von anderen abhängig bin, nicht nur, was die Selbsterkenntnis angeht, sondern auch, was das bloße Überleben betrifft. Der Krebs nimmt einem alle Unabhängigkeit, stößt einen in die Abhängigkeit von Freunden, Verwandten und einem völlig fremden Menschen, von stoischen Ärzten und erschöpften Krankenschwestern, und wenn man Glück hat und ihn überlebt, nimmt man den eigenen Platz in der Kette der menschlichen Beziehungen niemals mehr einfach als gegeben hin.
Manchmal definieren wir uns über Menschen, die wir nicht einmal kennen. So war es bei Sally Reed und mir der Fall. Ohne den Krebs hätte es wohl kaum eine Verbindung zwischen einem Radrennfahrer und einer Frau in den Fünfzigern gegeben, die, wie sie einmal scherzhaft sagte, wenn die Dinge anders gekommen wären, den Großteil ihrer wachen Zeit vor der Glotze verbracht hätte. Im Frühjahr 1999 waren wir füreinander Fremde, doch aufgrund eines, wie Sally es nennt, »Wink des Himmels« kreuzten sich unsere Wege: Ich war gerade auf dem Weg zum ersten Toursieg, als bei Sally Krebs diagnostiziert wurde. Am Tag nach ihrer ersten Chemotherapie riet ihr ein Freund, den Fernseher einzuschalten und mir bei der Tour zuzusehen, weil ich eine wundervolle Rückkehr von der Krankheit geschafft hatte.
Ich hatte gerade erst die Lance Armstrong Foundation ins Leben gerufen, als mich ein ehrenamtlicher Mitarbeiter, der Sally kannte, fragte, ob ich nicht ein Poster für eine nette Lady signieren könnte, die am Stadtrand von Austin lebte und an schwerem Brustkrebs litt. Natürlich konnte ich.
»Sei mutig und kämpfe wie der Teufel«, schrieb ich ihr.
Sally hängte das Poster in der Küche auf und sah es sich jeden Tag während der sechs Monate an, die ihre Strahlenbehandlung und Chemotherapie dauerte. Als sie im Dezember 1999 schließlich mit der Strahlenbehandlung fertig war, fing sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Stiftung an, obwohl ihre Haare noch nicht nachgewachsen waren. Ohne Ausnahme jeden Dienstag und Donnerstag setzte sie sich ins Auto und fuhr eine Stunde ins Büro, um Post und
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