Jeden Tag, Jede Stunde
er hatte Angst, große Angst, aber sie haben es geschafft, und es ist nichts passiert, nur seine Kuscheltiere sind durcheinandergekommen, Papa hat sich um alles gekümmert -, schaltet der Vater den Motor aus. Das Boot treibt auf dem Wasser. »Wie heißt die Insel dort drüben?«, fragt Zoran. Luka mag dieses Spiel. Er ist gut darin. »Brač«, sagt er. Lukas Stimme zittert, obwohl er sich seiner Sache sicher ist. »Gut, und dahinter?« »Far«, sagt Luka schnell. Der Vater lächelt. »Ja, fast richtig. Hvar heißt sie. Aber das ist ein schwieriges Wort, manchmal kann nicht einmal ich es aussprechen.« Luka ist nachdenklich, er hofft, er hat nichts vermasselt. Der Vater holt die Angelrute. Also alles in Ordnung. Luka muss vor Aufregung ständig schlucken. Er lehnt sich über den Rand und sucht nach den Fischen. Er ruft ihnen zu, sie sollten sich beeilen, sich bereithalten, er komme. Er taucht seine kleine Hand ins Meer hinein. »Hier, hier, kleine Fischlein«, flüstert er. Dann hebt er den Blick und begegnet den Augen seines Vaters. Heute ist der schönste Tag meines Lebens, denkt Luka und macht die Augen zu. Meeresbewohner knabbern an seinen Fingern.
Während Lukas Hand die Fische im Meer herausfordert, erblickt Dora die Welt mit einem Schrei, der so schrill ist, dass die Hebamme Anka lachen muss. Man schreibt das Jahr 1962 im Entbindungsraum des Krankenhauses im Franziskanerkloster. So ein starkes, kräftiges Mädchen, sagt Anka. Die Mutter Helena ist erschöpft und kann nichts sagen. Lächeln kann sie auch nicht. Sie kann nur daran denken, dass es endlich vorbei ist. Endlich. Das erste und das letzte Kind, denkt sie. Sie schließt die Augen und schläft ein. Doras lauter Widerstand stört sie dabei nicht. Die Hebamme bewundert die Kraft dieses winzigen Wesens. Sie blickt Dora liebevoll an. Sie streichelt ihr Köpfchen und ihr zitterndes Körperchen. Die Hebamme ist alt – obwohl: Verglichen mit diesem Wesen ist jeder alt – und hat viel Erfahrung. Sie hat unzählige Kinder entbunden. Sie hat sie alle gesehen. Aber dieses Mädchen! Unermüdlich ohrenbetäubend schreiend, schleicht es sich in ihr Herz hinein. Ohne sich zu verirren. Ohne Umwege. Die Hebamme spürt leise Tränen aufkommen. Sie hat keine eigenen Kinder. Sie hat nie geheiratet. Ihr Verlobter ist im Krieg gefallen. Von Italienern erschossen. Danach hat es keinen Mann mehr für sie gegeben. So ist es damals gewesen. Und jetzt, seit dem großen Erdbeben im Januar, bei dem von ihrem Häuschen nur die Westwand geblieben ist, muss sie auch noch bei ihrer jüngeren Schwester wohnen und deren Mann ertragen, der zu oft betrunken ist und so gerne Witze über ihr Alleinleben macht. Gemeine, anstandslose Witze. Sie krümmt ihren Zeigefinger und berührt mit dem Knöchel den kleinen, runden Mund des Mädchens. Überrascht und abgelenkt verstummt es, und seine fast blinden Augen finden die der Hebamme und bleiben an ihnen haften. Dora wird es heißen, aber das ist ja schon bekannt.
Dora ist zwei Jahre alt und ein lebhaftes Mädchen. Ihre Mutter sagt, sie sei wild. Dora versteht das nicht, es ist ihr aber auch egal. Denn ihre Mutter lächelt dabei. Und ihr Vater setzt sie sich auf die Schultern und läuft mit ihr herum, als wäre er ihr Pferdchen. »Dora lacht, und die ganze Stadt bebt«, sagt die Mutter. Dora spricht mit zwei Jahren wie kein anderes Kind. So als wäre sie schon fünf. »Und sie versteht auch alles«, sagt ihre Mutter nicht ohne Stolz. Dora kann von nichts genug haben. Sie muss alles anfassen, alles sehen, überall hingehen. Auf der Straße, in der Kalalarga, auf der Riva, der Uferpromenade oder auf dem Kačić-Platz ruft sie jedem Vorbeieilenden etwas zu, und der Vorbeieilende, die Eile vergessend, bleibt stehen, lächelt sie an, wenn auch unsicher oder verwundert, und grüßt sie oder antwortet ihr. Dora ist sehr sicher auf den Beinen, sie fällt nie hin, aber sie rennt auch nicht, sie läuft einfach nur sehr schnell. Ihre Schritte sind lang, es sieht merkwürdig, manchmal sogar komisch aus, wenn man sie dabei beobachtet. Springen will Dora auch nicht. Sie steigt von einer Mauer mit einem Schritt ins Leere. »Hast du Angst?«, fragt die Mutter. Dora weicht ihrem Blick aus und antwortet nicht. Und springt nicht.
Luka ist fünf Jahre alt und bekommt eine Schwester. Sie heißt Ana und ist winzig und weint viel, und seine Mutter kann sich kaum auf den Beinen halten, und sein Vater arbeitet mehr denn je, und Luka sieht ihn immer
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