Jeden Tag, Jede Stunde
wird er in das Kriegsgebiet Dubrovnik geschickt.
In und um die belagerte Stadt kämpfen siebenhundert kroatische Soldaten und Polizisten gegen dreißigtausend serbische und montenegrinische Soldaten. Na dann.
36
Am frühen Morgen des dritten Juli 1992, einen Tag vor dem Beginn der Militäroperation »Tiger«, mit der die kroatische Armee das westliche und nördliche Hinterland von Dubrovnik zurückerobern und die Normalisierung des Verkehrs auf der Adriatischen Magistrale sichern will, wird Luka verwundet.
Er liegt hinter einem Felsen und beobachtet mit dem Fernglas die feindlichen Linien. Alles ist ruhig. Und dann plötzlich kracht es, und er schreit, und sein Bein blutet, und er kann seine Knochen sehen und wird ohnmächtig. Er hat nicht einmal Zeit zu zählen.
Am frühen Morgen des dritten Juli 1992 wacht Dora mit einem leisen Schrei auf. Es ist 5:20 Uhr. Nikola schläft neben ihr, ruhig und satt. Ihr Nachthemd ist feucht, und ihr Haar klebt schweißnass am Kopf. Sie bekommt kaum Luft und fängt an zu schluchzen. Sie will aufstehen, aber die Beine halten sie nicht, und sie muss sich wieder aufs Bett setzen. Sie legt die Hand auf den Brustkorb und massiert ihn mit langsamen Kreisbewegungen. Sie versucht, Atemübungen zu machen, aber es gelingt ihr nicht richtig, sie ist abgelenkt. Denn jetzt fällt ihr ein, wieso sie aufgewacht ist. Sie hat geträumt. Luka stand vor ihr, er lächelte. Aber er war mit Blut verschmiert, viel Blut. Nichts außer Blut konnte man sehen. Und seinem lächelnden Gesicht. Dann ist er zu Boden gefallen und liegen geblieben. Er konnte sich nicht bewegen, nur lächeln.
Dora weint. Leise, aber heftig. Sie legt sich wieder ins Bett und nimmt Nikola in die Arme. Er saugt vergnügt an seiner Zunge und schläft weiter. Er kann sich auf der ganzen Welt keinen besseren Ort vorstellen als Mamas Arme.
»Luka, mein Prinz, mein Luka, nur mein, für immer und ewig«, flüstert Dora und weint und hält Lukas Sohn fest im Arm.
Luka hört eine leise Stimme an seinem Gesicht: »Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, du bist mein Prinz, nur mein, ich bin da, alles ist gut, wach auf, sieh mich an.« Dann kommen ihm auch andere Stimmen und Worte zu Ohren und, verwirrt und schwach, macht er die Augen auf und sieht Doras Gesicht. Seine Lippen bewegen sich lautlos, aber er kann nichts sagen, also lächelt er schwach, und sie lächelt auch, und er hebt unsicher seinen Arm, und seine Hand streckt sich zu ihrem Gesicht, und er berührt ihr langes schwarzes Haar, und sie flüstert noch einmal ganz leise, so leise, dass nur ihr Mund sich bewegt und nur er es hören kann: »Du bist mein Prinz …«
Dora schläft endlich ein. Sie träumt nicht. Ihr Schlaf ist eine endlose Leere ohne Licht, ohne Wasser und ohne Sauerstoff. Man kann in dieser Leere nicht überleben. Doch Dora will dort bleiben, aus Angst vor einem Leben ohne Für immer und ewig. Sie weint im Schlaf weiter. Dann wird sie von Nikolas munterem Plappern geweckt und weiß, dass sie leben wird, bis es zu Ende ist.
Zwei Wochen verbringt Luka in Split, im überfüllten Krankenhaus. Alles läuft gut. Man konnte das Bein retten. Es könnte sein, dass er ein wenig hinken wird. Aber das ist doch gar nichts, sagt Zoran und drückt Lukas Hand. Er sieht ihn immer wieder an, er kann nicht genug von seinem Sohn bekommen. Er muss ihn ständig berühren, sich vergewissern, dass er noch da ist und dass es ihm gut geht, und das mit dem Bein, das wird schon werden, Hauptsache, er lebt und es ist vorbei. Sein Sohn gehört ihm wieder, und alles ist in Ordnung, er kann aufatmen und sich entspannen, und jetzt wird er sicher wieder schlafen können. Eine Woche wird er nur noch schlafen. Hauptsache, Luka ist da. Gesund und in einem Stück und mit allen Körperteilen. Ein steifes oder kürzeres oder schiefes Bein, wen kümmert das!
Ende Juli kommt Luka dann nach Hause.
An der Tür steht Klara mit dem Baby im Arm. Katja hüpft neben ihr auf und ab und schreit: »Tata, tata!«, und läuft im Kreis. Luka steigt aus dem Auto, er will nicht, dass Zoran ihm hilft. Er stützt sich auf seinen Stock: Den wird er nie mehr loslassen. Katja ruft immer noch nach ihm und zieht an seiner Hand. Er lacht. »Nicht so schnell, Katja, tata kann nicht so schnell, sein Bein tut weh.« Er geht, von seiner älteren Tochter gezogen, ins Haus. An Klara vorbei. Ohne ein Wort. Am Baby in Klaras Armen vorbei. Ohne einen Blick. Zoran wendet sich von diesem Elend ab, schnell wischt er
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