Jeden Tag, Jede Stunde
beweisen, dass er nicht ausgestorben ist.
Dora betrachtet ihren Sohn von der Seite und wundert sich. Wie konnte er so schnell so groß werden? Noch gestern war er ihr Baby, und jetzt wird er bald zehn Jahre alt sein, wird sie verlassen, studieren gehen, heiraten. Oder in einem Käfig zu den menschenfressenden Haien hinuntertauchen! Dora versucht, nicht zu weinen, aber es fällt ihr schwer bei dem Gedanken an ihren kleinen Liebling, Auge in Auge mit einem Weißen Hai.
»Mama, was hast du?« Nikolas kleine Hand berührt Doras Wange.
»Nichts, mein Herz, ich habe nur zu lange in die Wolken gestarrt.«
»Sollen wir nach Hause gehen?«, fragt Nikola ein wenig enttäuscht.
»Wir können auch ein Eis essen gehen«, erwidert Dora langsam, so als müsste sie überlegen.
»Oder zwei!« Und schon lacht Nikola.
»Und da ich heute nicht ins Theater muss, können wir zu Oma und Opa aufs Land fahren und im Garten zu Abend essen. Was sagst du dazu?«
Nikola springt auf und umarmt seine Mutter mit so viel Leidenschaft, dass Dora fast wieder weinen muss.
»Danke, Mami, danke! Du bist die beste Mami auf der Welt!« Nikola überschüttet sie mit Küssen, und am Ende liegen sie wieder im Gras und lachen wie zwei Fünfjährige.
»Eigentlich müssen wir Roger danken, weil er so nett war und Mami einen freien Abend gegeben hat.«
»Roger ist auch der Beste! Ich mag Roger«, flüstert Nikola in Doras Ohr.
»Ich auch«, flüstert sie zurück.
Luka sitzt am Strand und beobachtet seine fast zehnjährige Tochter, die im Meer sitzt und mit Steinen spielt. Immer wieder dreht sie sich zu ihm und sieht ihn an. Sie lächelt nicht. Sie lächelt selten. Sie sieht ihn nur an, als würde sie fragen: Wieso bist du noch hier?
Luka sitzt im Schatten, denn obwohl es schon sechs Uhr abends ist, ist die Sonne für ihn noch zu heiß. Nicht für Maja, nein. Seine jüngere Tochter liebt die Sonne und kann nicht genug von ihr bekommen. Deswegen geht Luka mit ihr zum Strand, wenn die meisten Touristen schon beim Abendessen sind und er nicht gerade Schicht hat. Er sitzt einfach da und beobachtet sie. Das beruhigt ihn. Wie eine Meditation. Er betrachtet die Sonne, das Meer, den immer leerer werdenden Strand, die hängenden Pinienbäume. Seine Tochter. Es geht ihr gut. Sie hat es geschafft. Es hat nicht immer gut ausgesehen, aber die schlimmsten Zeiten sind vorbei. Man muss ein wenig auf sie aufpassen, sie darf sich nicht zu sehr anstrengen und muss immer noch ein paar Medikamente nehmen, aber was ist das schon verglichen mit der Katastrophe am Anfang, als sie so gut wie tot war.
Und jetzt planscht sie im Meer und sieht ihn streng an. Schwimmen hat sie nie gelernt. Wollte sie nie. Luka hat sie anfangs dazu gedrängt, sie dann aber in Ruhe gelassen. Nicht jeder muss schwimmen können. Luka muss an seine Mutter denken.
»Tata, warum können Tiere nicht lachen?«
Seine Tochter Maja.
Es ist ein herrlicher, warmer Sommerabend. Es ist lange hell. Man schreibt das Jahr 2001. Dora und Nikola rasen auf der Landstraße nach Versailles, wo Ivan vor fünf Jahren ein Häuschen für Helena und ihn gebaut hat. Nachdem Helena ihm wieder das Jawort gegeben und Nikola die Ringe getragen und wie ein schwarzhaariger Engel ausgesehen hatte. Der Kreis habe sich geschlossen, schlicht und ergreifend, waren Helenas Worte. Und in dem Augenblick des familiären Glücks hat Dora an ihr eigenes Leben denken müssen. Wird es ein Kreis werden oder eine Linie bleiben? Dann hat sie ihren Sohn angesehen und sich gewünscht, dass sich alles zum Besten entwickelt, was immer das auch bedeuten mag.
»Mama, sind wir bald da?« Nikola sitzt hinten in seinem Sitz und liest in seinem Buch. Killerhaie . Was sonst.
»Ja, mein Schatz.«
»Mama, hast du gewusst, dass ein Hai auch ein Spritzloch hat, wie ein Wal?«
»Nein, na so was.«
»Es liegt aber nicht oben am Kopf, sondern an der Seite, neben dem Auge.« Nikola hebt den Blick nicht einmal eine Sekunde aus dem Buch, das größer als seine Oberschenkel ist.
»Was du nicht sagst. Das ist faszinierend.« Dora beobachtet ihren Sohn im Rückspiegel.
»Mama, gibt es Theaterstücke über Haie?« Jetzt sieht er sie doch an, ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Er ist sehr ernst und nachdenklich.
»Nicht dass ich wüsste. Aber ich könnte mich erkundigen, wenn es dir wichtig ist. Roger wird das sicher wissen.« Sie lacht nicht. Sie ist beeindruckt.
»Ich weiß nicht. Würdest du einen Hai spielen wollen?« Er wendet seinen Blick
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