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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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vorstellen, all diese Jahre ohne dich, aber heute Nacht hast du mir gezeigt, dass du mich doch noch liebst und … Luka stößt sie von sich weg. Unsanft und wütend. »Du hast mich vergewaltigt«, schreit er, »ich hasse dich, ich werde dich nie in meinem Leben mehr anfassen, du widerst mich an, du hast mich ausgenutzt, meinen Zustand, du hast gesehen, dass ich total betrunken und am Boden zerstört war, wie konntest du, nicht einmal ein Mann würde so etwas tun, du bist das Letzte, was habe ich mir nur gedacht, oh Gott, wie konntest du mir so etwas antun, ich glaube, ich muss wieder kotzen …«
    »Tata!« Katja steht hinter Klara, fast ganz von ihr verdeckt. »Tata!« Und dann weint sie und schlägt sich mit ihren winzigen Händen ins Gesicht. »Tata!«
    Luka geht ins Badezimmer und sperrt sich ein.

35
    Am späten Abend des fünften November – man schreibt das Jahr 1991 – bringt Dora in Paris Lukas Sohn zur Welt. Alles geht schnell und ohne Komplikationen vonstatten. Beide sind gesund und wohlauf. Im Wartezimmer sitzen Helena, Ivan und Jeanne und prosten sich zu mit dem Champagner, den Ivan mitgebracht hat. Sogar an die Gläser hat er gedacht. Helena sieht ihn dankbar an, er nickt ihr nur liebevoll zu. Seitdem Helena Marc verlassen hat, hat Ivan etwas von seinem früheren Charme zurückbekommen, er kümmert sich auch mehr um sein Aussehen, hat sich fast einen ganzen Schrank neuer Anzüge gekauft. Und seine Augen funkeln wieder, er lächelt öfter. Helena sagt, er erinnere sie an den jungen Mann, den sie geheiratet habe, damals, vor hundert Jahren, und sie lacht dabei kokett und lässt die Wimpern flattern.
    »Auf Dora!«, sagt Jeanne, die in ein paar Tagen, noch vor Weihnachten, nach Simbabwe fliegt, um sich dort um kranke und bedürftige Kinder zu kümmern. Sie hat Tränen in den Augen. Es ist einfach zu viel, Dora, das Baby, ihr Umzug, alles neu und ungewiss.
    »Auf meinen Enkelsohn!«, sagt Helena und weint, schluchzt und lacht und weiß nicht, was sie fühlt und wie sie das alles finden soll, also weint sie noch ein bisschen mehr und schnäuzt sich mädchenhaft in das Taschentuch, das Ivan ihr hinhält.
    »Auf die Liebe!«, sagt Ivan und überrascht auch sich selbst mit diesem Spruch. Aber es kommt ihm in diesem Augenblick wirklich so vor, als wäre die Liebe das Wichtigste auf der Welt, das, worum sich alles drehen sollte. Er sieht Helena an, die Frau, die er nie aufgehört hat zu lieben, und er denkt an seine Tochter, die verrückt und mutig genug war, um diese Sache alleine durchzuziehen, sich das zu nehmen, was sie haben wollte, die alles nur aus Liebe zu einem einzigen Mann gemacht hat und es immer noch tut, und, wie er sie kennt, nie etwas anderes tun wird. Und plötzlich muss er hörbar schlucken, denn Tränen füllen seine Augen vor Stolz, ihr Vater sein zu dürfen. Es kann auch nicht alles falsch sein, was er getan hat, wenn er so eine Tochter hat.
    Und dann dürfen sie Dora und ihren Sohn besuchen. Sie beeilen sich. Als wäre es eine Auszeichnung.
     
    Luka sitzt in seiner Ecke in seiner Stammkneipe und trinkt das dritte Glas Wein. Er weiß nicht, warum, aber heute Abend ist ihm nach Wein zumute. Rotwein. Als gäbe es etwas zu feiern. Heute ist ein ganz besonderer Tag. Ohne zu wissen, warum, lächelt Luka, grinst und macht gelegentlich die Augen zu, als sähe er Bilder. Und tatsächlich. Einen Augenblick lang sehnt er sich nach einer Leinwand und Farben, denn das Bild in seinem Kopf ist fantastisch, seiner eigentlich gar nicht würdig, und dennoch entsteht es ausgerechnet in seinem Kopf! Ob das etwas bedeutet?
    »Die nächste Runde geht auf mich!«, schreit er Ante, dem Kellner, zu. Es sind nicht viele Menschen da, aber alle kennen Luka und bedanken sich laut und ausgiebig. Und Luka widmet sich wieder seinem Glas und dem Bild in seinem Kopf und ist zufrieden. Wenn er mutiger wäre, könnte er sogar glücklich sein. Aber zufrieden ist auch nicht schlecht. Er versteht selbst nicht, was mit ihm geschieht. Er hat einfach ein nicht nachvollziehbares und unbegründetes Gefühl, dass eben in diesem Moment, wo er so sorglos in dieser Kneipe seine unkostbare Zeit sinnlos vertreibt, etwas Wichtiges vor sich geht, etwas für ihn Entscheidendes, etwas, wovon zu träumen er nicht einmal den Mut hat, wenn er sich alleine auf dem Boot mitten auf dem Meer befindet oder betrunken ist. Und dieses unbekannte Etwas erhellt sein Herz und seine Seele, und er hat das Gefühl, er könnte wieder malen. Es ist ein

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