Jeden Tag, Jede Stunde
sich übers Gesicht.
Für Luka ist der Krieg zu Ende, der Albtraum geht jedoch weiter. In jeglicher Hinsicht.
Wochenlang hat Dora Albträume, kann nicht schlafen, meint, der Tod läge neben ihr im Bett. Sie isst kaum etwas, sie leidet an Atemnot. Helena schickt sie zum Arzt, aber Dora weigert sich, hinzugehen. Sie hat Angst. Sie hat Angst, dass der Arzt nichts findet, und dann weiß sie mit absoluter Sicherheit, dass Luka etwas passiert ist, und das geht überhaupt nicht, das kann sie nicht ertragen. Sie hält sich an Nikola fest. Er ist ihr Anker und ihr Rettungsring. Dora wartet ab. Ist zu nichts anderem fähig.
Und sieh einer an! Eines Tages ist tatsächlich alles vorbei! Verschwunden die Albträume, die Schlaflosigkeit, die Atemnot, so unerwartet und plötzlich, wie sie gekommen sind. Und sie geht mit Helena und Nikola in ihre Lieblingskonditorei in der Rue Sainte Anne und bestellt drei Stück Schokoladentorte mit Sahne und isst sie auf, ohne die Gabel abzulegen. Helena lacht Tränen. Nikola schlägt mit seinem Plastikglas auf den Tisch und kräht vor Vergnügen.
An dem Abend geht sie wieder ins Theater und macht ihre Arbeit enthusiastisch und voller Übermut, fast ein wenig hysterisch. Aber keiner beklagt sich, alle sind froh, dass sie wieder da ist. Vor allem Roger, ihr Regisseur. Der auch gerne mehr wäre. Auch Tschechow freut sich, dass seine Irina zu den anderen zwei Schwestern zurückgekehrt ist.
Als sie an dem Tag nachts nach Hause kommt und Nikola aus Helenas Armen nimmt, küsst sie das schlafende Kind ab und flüstert: »Alles ist in Ordnung, moje zlato, alles bestens, Papa geht es gut.«
37
»Da, ein tanzender Bär, und er hat einen großen Hut auf. Siehst du ihn, Mama?« Nikola ist aufgeregt. Sein ausgestreckter Arm bewegt sich nicht, obwohl der Wind die Wolken schnell vorbeiziehen und sie ihre Formen nicht lange behalten lässt.
»Natürlich! Hast du auch den kleinen Ball in seiner Tatze gesehen?« Dora nimmt Nikolas Hand und drückt einen langen Kuss darauf.
»Bären haben doch gar keine Tatzen, Mama, sondern Pranken!« Nikola lacht über die Unwissenheit seiner Mutter.
»Was du nicht sagst, zlato moje! Wie gut, dass du da bist, um mir das beizubringen.« Dora streichelt ihm über die schwarzen Locken. »Aber ich sehe auch noch einen tanzenden Hai, der eine Rose im Maul hat. Ich glaube, er wird den Bären zu einem Tango auffordern, was meinst du?«
Nikola lacht vergnügt.
»Mama, das geht gar nicht! Wo sollen sie sich denn treffen?«
»Aber du weiß doch, dass Bären Wasser mögen, das wird kein Problem sein, glaub mir.« Und schon wieder lacht Nikola laut, und die Leute sehen sie an und lächeln.
Er und Dora liegen auf der Wiese im Rosengarten vom Parc Monceau. Das ist Nikolas Lieblingsplatz. Er mag den Rosengeruch und hört gerne Geschichten aus der Kindheit seiner Mutter, die hier spielen oder in einer kleinen Hafenstadt am Meer, wo er noch nicht war, aber Mama hat ihm versprochen, mit ihm einmal hinzufahren. Er kann nicht genug davon bekommen, von Papou – ach, wie gerne hätte er auch einen Hund!, aber Mama sagt, ihre Wohnung sei zu klein, ein Hund brauche einen Garten -, von abenteuerlichen Bootsfahrten, vom geheimen Felsen und leckerem Schokoladeneis. Nikola liebt Eis. Vor allem wenn es so heiß ist wie heute und er Sommerferien hat, auch wie heute. Nikola geht nicht gerne zur Schule. Er mag es, seine Freunde dort zu treffen, aber die Lehrerin mag er überhaupt nicht: Sie ist oft so gemein zu ihm, nur weil seine Mama eine berühmte Schauspielerin ist! Das findet Nikola voll ungerecht! Außerdem interessiert ihn das, was sie in der Schule lernen müssen, nicht besonders. Er wird einmal Kapitän sein. Auf einem großen Schiff. Er wird Meere erforschen und Fische und Wale, vor allem aber Haie. Haie sind seine Lieblingstiere. Und zwar nicht nur die großen, bekannten, nein, er mag vor allem den Zigarrenhai, der nur im tiefen Wasser zu finden ist, oder aber den Hammerhai, weil er so hässlich ist und Nikola Mitleid mit ihm hat. Er kann sich gut vorstellen, wie der Hammerhai von den anderen ausgelacht und aufgezogen wird. Da nutzt es ihm auch nicht, dass seine Sinne schärfer sind und er besser manövrieren kann als die anderen. So sind sie halt, die Haie, spötteln über alles, was anders ist. Aber Nikolas Hauptaufgabe als Haiforscher wird sein, den Megalodon, den größten Hai in der Geschichte der Haie – er war zwischen zwölf und vierzehn Meter lang! -, zu finden und so zu
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