Jeder stirbt für sich allein
gelebt? Warum habe ich dann hier so viel aushalten müssen? Ich hab doch nichts getan, keinem Menschen habe ich zur Freude gelebt, nie habe ich jemanden wirklich gern gehabt.»
«Tja», meinte der Kommissar, «ein großer Held bist du nicht gewesen, Kluge. Und irgendwie nützlich hast du dich wohl auch nicht gemacht. Aber warum willst du jetzt darüber nachdenken? Jetzt ist es unter allen Umständen zu spät, ob du das nun tust, was ich dir vorschlage, oder ob du mit mir zur Gestapo gehst. Ich sage dir, Kluge, in der ersten halben Stunde schon wirst du auf den Knien um eine Kugel bitten. Aber es wird viele, viele halbe Stunden dauern, bis sie dich aus deinem Leben zum Tode gequält haben ...»
«Nein, nein», sagte Enno Kluge. «Zu denen gehe ich nicht. Gib mir mal die Pistole in die Hand - ist es so richtig, wie ich sie halte?»
«Ja .»
«Und wo soll ich sie ansetzen? Da an die Schläfe?» «Ja .»
«Und nun den Finger hier an den Hahn legen. Ich will's vorsichtig tun, jetzt will ich noch nicht ... Ich möchte noch ein bißchen mit dir reden ...»
«Du brauchst keine Angst zu haben, die Pistole ist noch gesichert .»
«Weißt du auch, Escherich, daß du der letzte Mensch bist, mit dem ich spreche? Danach wird's nur noch Ruhe geben, nie wieder werde ich mit einem Menschen sprechen können.»
Er schauderte zusammen.
«Als ich eben die Pistole an die Schläfe gesetzt hatte, ging so eine Kälte von ihr aus. So eisig muß die Ruhe und die Freiheit sein, die mich nachher erwarten.»
Er beugte sich nahe zum Kommissar und flüsterte:
«Willst du mir eins fest versprechen, Escherich?»
«Ja. Was ist denn?»
«Aber du mußt dein Versprechen auch halten!» «Das tu ich schon, wenn ich's kann.»
«Laß mich nicht ins Wasser rutschen, wenn ich tot bin, versprich mir das. Vor dem Wasser habe ich Angst. Laß mich hier oben liegen, auf dem trockenen Steg.»
«Natürlich. Das verspreche ich dir!»
«Schön, gib mir die Hand darauf, Escherich.»
«Hier!»
«Und du wirst mich nicht betrügen, Escherich? Siehst du, ich bin nur ein kleines, elendes Aas. Es macht nicht viel
aus, ob man mich betrügt oder nicht. Aber du wirst es nicht tun?»
«Ich werde es bestimmt nicht tun, Kluge!»
«Gib mir noch mal die Pistole, Escherich - ist sie jetzt entsichert?»
«Nein, noch nicht, erst wenn du's sagst.»
«Habe ich sie so richtig angesetzt, ja? Jetzt fühle ich die Kälte vom Lauf kaum noch, ich bin ebenso kalt wie der Lauf. Weißt du, daß ich eine Frau und Kinder habe?»
«Ich habe sogar mit deiner Frau gesprochen, Kluge.»
«Oh!» Der Kleine war so interessiert, daß er die Pistole rasch wieder absetzte. «Ist sie hier in Berlin? Ich würde sie gern noch einmal sprechen.»
«Nein, sie ist nicht in Berlin», antwortete der Kommissar und verfluchte sich, weil er seinem Grundsatz, nie eine Mitteilung zu geben, untreu geworden war. Gleich hatte man die Folgen! «Sie ist immer noch im Ruppinschen bei ihren Verwandten. Und es ist schon besser, du sprichst nicht mit ihr, Kluge.»
«Sie ist nicht gut auf mich zu sprechen?»
«Nein, gar nicht, sie ist nur böse auf dich zu sprechen.» «Schade», sagte der Kleine. «Schade. Eigentlich ist es komisch, Escherich. Ich bin doch ein reiner Garnichts, den niemand lieben kann. Aber hassen, hassen tun mich viele.»
«Ich weiß nicht, ob das Haß ist bei deiner Frau, ich glaube, sie will nur Ruhe vor dir haben. Du störst sie ...»
«Die Pistole ist doch noch gesichert, Kommissar?»
«Ja», antwortete der Kommissar verwundert, daß Kluge, der die letzte Viertelstunde ganz ruhig geworden war, plötzlich wieder so aufgeregt fragte. «Ja, die ist noch immer gesichert ... Was zum Teufel?»
Die Pistole zündete mit ihrem Mündungsfeuer so nahe an seinen Augen vorbei, daß er ächzend auf den Steg zurückfiel; immer im Gefühl, geblendet zu sein, preßte er die Hände vor die Augen.
Der Kluge flüsterte an seinem Ohr: «Ich wußte es, sie war nicht gesichert! Wieder einmal wolltest du mich betrügen! Und jetzt bist du in meiner Hand, jetzt kann ich dir deine Ruhe und Freiheit geben ...» Er hielt den Pisto-lenlauf gegen die Stirn des Stöhnenden, er kicherte:
«Fühlst du, wie kalt das ist? Das ist die Ruhe und der Frieden, das ist das Eis, in dem wir begraben sein werden, immer und immer
Der Kommissar richtete sich ächzend auf. «Hast du das mit Absicht getan, Kluge?» fragte er streng und riß die wundbrennenden Lider hoch von den schmerzenden Augen. Ihm war, als sähe er den
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