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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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«Glauben Sie, ich fahre hier die halbe Nacht mit Ihnen spazieren, um eine Viertelstunde vor dem Ziel umzukehren?» Etwas sanfter fuhr er fort: «Ich kann jetzt schon ganz gut sehen. Wir müssen den Ne-benweg da nehmen, da kommen wir am schnellsten zum See ...»
    Schweigend gingen sie los, beide vorsichtig mit den Füßen nach unsichtbaren Hindernissen tastend.
    Als sie ein Stück Weg gegangen waren, schien die Luft vor ihnen heller zu werden.
    «Sehen Sie, Kluge», sagte der Kommissar, «ich wußte doch, ich kann mich auf meinen Ortssinn verlassen. Da haben wir schon den See!»
    Kluge schwieg, und schweigend gingen sie weiter.
    Es war eine ganz windstille Nacht, alles war ruhig. Kein Mensch begegnete ihnen. Das glatte Wasser des Sees, das sie eher ahnten als sahen, schien eine graue Helle auszudünsten, als gäbe es den schwächsten Schein des am Tage aufgefangenen Lichts zurück.
    Der Kommissar räusperte sich, als wollte er sprechen und schwieg weiter.
    Plötzlich hielt Enno Kluge an. Mit einem Ruck befreite er seinen Arm aus dem seines Begleiters. Er rief fast schreiend: «Jetzt gehe ich keinen Schritt mehr! Wenn Sie mir was tun wollen, können Sie es ebensogut hier wie ei-ne Viertelstunde weiter tun! Kein Mensch kann mir zu Hilfe kommen! Es muß Mitternacht sein!»
    Wie um diese Worte zu bestätigen, fing eine Uhr plötzlich zu schlagen an. Der Klang kam überraschend nah und stark durch die dunkle Nacht. Unwillkürlich zählten die
    Männer mit.
    «Elf!» sagte dann der Kommissar. «Elf Uhr. Es ist noch eine Stunde bis Mitternacht. Kommen Sie, Kluge, wir haben nur noch fünf Minuten zu gehen.»
    Und wieder faßte er nach dem Arm des andern.
    Aber Kluge riß sich mit überraschender Kraft los: «Ich hab gesagt, ich geh keinen Schritt weiter, und ich geh keinen Schritt weiter!»
    Seine Stimme überschlug sich vor Angst, so schrie er.
    Aufgeschreckt flog ein Wasservogel im Schilf hoch und strich schwerfällig ab.
    «Schreien Sie doch nicht so!» sagte der Kommissar ärgerlich, «Sie machen ja den ganzen See rebellisch!»
    Dann besann er sich: «Also schön, ruhen Sie sich einen Augenblick aus. Sie werden schon Vernunft annehmen.
    Wollen wir uns hier hinsetzen?»
    Und wieder faßte er nach Kluges Arm.
    Enno schlug nach der fassenden Hand. «Ich lasse mich
    nicht mehr von Ihnen anfassen! Tun Sie mit mir, was Sie wollen, aber fassen Sie mich nicht an!»
    Der Kommissar sagte scharf: «Das ist nicht der Ton, in dem man mit mir spricht, Kluge! Was bist du denn? Ein feiger, kleiner, dreckiger Hund!»
    Auch den Kommissar begannen seine Nerven zu verlassen.
    «Und Sie?» schrie wieder Kluge. «Und was sind Sie? Ein Mörder sind Sie, ein gemeiner Meuchelmörder!»
    Er erschrak selbst über das, was er da gesagt hatte. Er murmelte: «Ach, entschuldigen Sie, Herr Kommissar, ich habe das nicht so gemeint ...»
    «Das sind die Nerven», sagte der Kommissar. «Sie müßten ein anderes Leben führen, Kluge, dies Leben halten Ihre Nerven nicht aus. Also setzen wir uns dort auf den Bootssteg. Haben Sie keine Bange, ich faß Sie nicht wieder an, wenn Sie solche Angst vor mir haben.»
    Sie gingen auf den Bootssteg zu. Das Holz knarrte, als sie ihn betraten. «Noch ein paar Schritte», ermunterte Escherich. «Am besten setzen wir uns auf die Spitze. Ich sitze gern auf so 'nem Dings, nur Wasser um mich ...»
    Aber wieder weigerte sich Kluge. Er, der eben noch einen
    Anflug von entschlossenem Mut gezeigt hatte, fing plötzlich zu wimmern an: «Ich gehe nicht weiter! Oh, haben Sie doch Erbarmen mit mir, Herr Kommissar! Ersäufen Sie mich nicht! Ich kann nicht schwimmen, ich sage es Ihnen gleich! Ich habe immer solche Angst vor dem Wasser gehabt! Ich will Ihnen jedes Protokoll unterschreiben!
    Hilfe! Hilfe! Hil...»
    Der Kommissar hatte den kleinen Kerl gepackt und trug den Zappelnden an das Ende des Stegs. Das Gesicht Ennos hatte er fest gegen seine Brust gedrückt, so fest, daß Kluge nicht weiterschreien konnte. So trug er ihn bis zum Ende des Stegs und hielt ihn dort nahe über das Wasser.
    «Wenn du noch einmal schreist, du Hund, werde ich dich hineinwerfen!»
    Ein tiefes Schluchzen entrang sich Ennos Kehle. «Ich werde nicht schreien», sagte er flüsternd. «Ach, ich bin ja doch hin, werfen Sie mich doch rein! Ich halte das nicht mehr aus .»
    Der Kommissar setzte ihn auf den Steg und nahm neben ihm Platz.
    «So», sagte er. «Und nachdem du nun gesehen hast, daß ich dich in den See werfen kann und tu's doch nicht, wirst du wohl

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