Jeder stirbt für sich allein
(es konnten auch sechstausend sein, selbst in seinen lichtesten Momenten konnte er das so genau nicht sagen).
Der alte Kammergerichtsrat meinte kühl: «Also lassen wir ihn weitertoben. Ich habe kein Interesse ...»
Das sonst so liebenswürdige, meist leicht ironische Gesicht hatte sehr kalt ausgesehen. Der alte Herr war die Treppe wieder hinuntergegangen.
Und Otto Quangel, mit seiner tiefen Abneigung, in etwas hineingezogen zu werden, hatte auch gesagt: «Was sollen wir uns da einmischen? Wir haben nur Scherereien davon! Du hörst doch, Anna, er ist besoffen! Er wird schon wieder nüchtern werden.»
Aber Persicke, der von all diesen Dingen am nächsten Tage kaum noch etwas wußte, Persicke war nicht nüchtern geworden. Am Morgen war es ihm schlimm gegangen, er hatte so sehr an allen Gliedern gezittert, daß er kaum noch den Flaschenhals an den Mund bringen konnte. Aber je mehr Schnaps er trank, um so geringer wurde das Zittern, die Angst, die ihn noch immer ruckweise überfiel. Nur noch das dunkle Gefühl, er habe etwas vergessen, das ihm unbedingt einfallen müsse, quälte ihn noch.
Und nun saß ihm die Ratte gegenüber, geduldig, listig, gierig. Die Ratte hatte es nicht eilig, sie hatte ihre Gelegenheit gesehen und war entschlossen, sie zu nützen. Die Ratte Klebs hatte es nicht eilig mit ihrem Bericht an den Herrn Kriminalrat Zott. Dem konnte man noch immer was vorsohlen, warum man noch nicht weitergekommen war. Dies war eine einzigartige Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen konnte.
Er ließ sie sich wirklich nicht entgehen, der Klebs! Der alte Persicke versank immer tiefer in seine Betrunkenheit, und wenn er auch nur mühsam lallen konnte, auch eine gelallte Auskunft ist etwas wert.
Nach einer Stunde wußte Klebs alles, was zu wissen not tat, von den Veruntreuungen des Alten; er wußte auch, wo die Schnapsflaschen lagen und die Rauchwaren - da
steckte der Rest des Geldes schon in seiner Tasche.
Jetzt ist die Ratte längst der beste Freund des Alten. Sie hat ihn in sein Bett gepackt, und wenn Persicke brüllt, läuft Klebs zu ihm und gibt ihm so viel Schnaps zu trinken, daß er wieder mit Brüllen aufhört. Dazwischen packt die Ratte eilig in zwei Koffer, was ihr mitnehmenswert erscheint. Die schöne Damastwäsche der toten Rosenthal wechselt schon wieder den Besitzer, wiederum nicht völlig legal.
Dann gibt Klebs dem Alten noch einmal tüchtig zu trinken, nun nimmt er die Koffer und schleicht aus der Wohnung.
Als er die Flurtür öffnet, tritt dicht vor ihn ein großer knochiger Mann mit einem finsteren Gesicht und sagt:
«Was machen Sie denn hier in der Wohnung von Persik-kes? Was schleppen Sie denn hier raus? Sie sind doch oh-ne Koffer gekommen! He, wird's bald? Oder wollen Sie lieber mit mir auf die Polizei kommen?»
«Bitte, treten Sie doch näher», pfeift die Ratte demütig.
«Ich bin ein alter Freund und Parteigenosse des Herrn Persicke. Er wird es Ihnen bestätigen. Sie sind der Hausverwalter, nicht wahr, Herr Hausverwalter, mein Freund Persicke ist nämlich sehr krank ...»
Borkhausen zum drittenmal geprellt
Die beiden Herren hatten in dem verwüsteten Wohnzimmer Platz genommen; jetzt saß der «Hausverwalter» auf dem Platz der Ratte, und Klebs saß auf dem Stuhl Persik-kes. Nein, der alte Persicke hatte nicht einmal eine Auskunft geben können, aber die Sicherheit, mit der sich Klebs in der Wohnung bewegte, die Ruhe, in der er mit Persicke sprach und ihm zu trinken gab, hatte den «Hausverwalter» doch zu einiger Vorsicht gemahnt.
Jetzt zog Klebs wieder seine abgegriffene Brieftasche aus einem Kunststoff, der einmal schwarz gewesen war und nun an den Kanten rostrot schimmerte, hervor. Er sagte:
«Wenn ich dem Herrn Hausverwalter vielleicht meine Papiere zeigen darf? Es ist alles in Ordnung, ich bin von der Partei beauftragt ...»
Aber sein Gegenüber wies die Papiere zurück, er lehnte auch den Schnaps ab, nur eine Zigarette nahm er. Nein, jetzt trank er keinen Schnaps, er erinnerte sich zu gut, wie damals bei der Rosenthal oben der Enno ihm ein glänzendes Geschäft mit Kognaktrinken vermasselt hatte.
Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Borkhausen, denn niemand anders als Borkhausen ist es, der dort als «Hausverwalter» sitzt, denkt nach, wie er seinem Gegenüber beikommen kann. Er hat diesen Bruder sofort durchschaut: ob der nun tatsächlich ein Bekannter vom alten Persicke ist oder nicht, ob er im Auftrag der Partei hier sitzt oder nicht - ganz egal: der Kerl
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