Jeder stirbt für sich allein
Zelle war, daß er einen Zellengefährten hatte, einen Mitleidenden, einen, der ebenso schuldig sein sollte, einen Mitmenschen. Denn das war ein Mensch, vor dem Quangel ein Grausen ankam, ein wildes, unflätiges Tier, herzlos und feige, zitternd und roh, ein Mensch, den Quangel nicht ansehen konnte, ohne einen tiefen Ekel vor ihm zu empfinden, und dem er doch willfährig sein mußte, denn der Mann besaß viel mehr Kräfte als der alte Werkmeister.
Karl Ziemke, von den Wachen Karlchen genannt, war ein etwa dreißigjähriger Mann von herkulischem Körper-bau, mit einem runden, bullenbeißerhaften Kopf, in dem sehr kleine Augen saßen, und mit langen, dichtbehaarten Armen und Händen. Seine niedrige, bucklige Stirn, in die stets ein Wisch filziger Haare hing, war von vielen Längs-falten gefurcht. Er sprach nur wenig, und das wenige, was er sprach, war nur Zeterei und Mord. Wie Quangel bald aus den Reden der Wachen erfuhr, war Karlchen Ziemke früher selbst ein prominentes Mitglied der SS gewesen, er hatte eine außerordentliche Henkersmission zu erfüllen gehabt, und wie viele Menschen diese behaarten Tatzen umgebracht hatten, das würde nie zu erfahren sein, denn Karlchen wußte es selbst nicht.
Doch für den Berufsmörder Karlchen Ziemke hatte es selbst in diesen mordlustigen Zeiten oft nicht genug zu morden gegeben, und da war er in solchen beschäftigungslosen Zeiten dazu übergegangen, auch dann Morde zu begehen, wenn sie nicht von seinen Vorgesetzten angeordnet worden waren. Wenn er es dabei auch nicht verschmähte, seinen Opfern Geld und Wertsachen abzuneh-men, so war doch nie das Rauben der Grund zu seinen Übeltaten gewesen, sondern stets nur die reine Mordlust.
Und schließlich war man ihm darauf gekommen, und da er so ungeschickt gewesen war, nicht nur Juden, Volks-feinde und ähnliches Freiwild umzubringen, sondern auch einwandfreie Arier und darunter sogar einen Parteigenossen, so saß er nun erst hier einmal im Bunker, und es war noch ungewiß, was mit ihm geschehen sollte.
Karlchen Ziemke, der so viele ohne einen schnelleren Herzschlag in den Tod geschickt hatte, war es angst um das eigene kostbare Leben geworden, und in seinem Kopf, der nicht viel mehr Gedanken, als ein fünfjähriges Kind hat, in sich trug, aber sehr viel bösere, war der Gedanke aufgetaucht, daß er sich vor den Folgen seiner Taten retten konnte, wenn er den Wahnsinnigen spielte. Er hatte sich dafür die Rolle eines Hundes ausgedacht. Oder sie war ihm auch von irgendwelchen Kameraden angeraten worden, was das Wahrscheinlichere war, und er führte diese Rolle mit Konsequenz durch.
Meist lief er völlig nackt auf allen vieren in der Zelle herum, bellte hündisch, fraß aus seiner Schüssel wie ein Hund und legte es immer wieder darauf an, Quangel in die Beine zu beißen. Oder er verlangte von dem alten Werkmeister, daß er ihm stundenlang eine Bürste zuwarf, die Karlchen dann apportierte, wofür er gestreichelt und belobt werden wollte. Oder Quangel mußte die Hosen Karlchens wie ein Sprungseil schwingen, worüber dann Karlchen ununterbrochen sprang.
Zeigte sich der Werkmeister nicht willig genug, so überfiel ihn der «Hund», warf ihn zu Boden und faßte seine Kehle wie ein Hund mit den Zähnen, und nie war er sicher, daß aus dem Spiel nicht ernst wurde. Die Wachen hatten eine tiefe Freude an den Ergötzungen Karlchens.
Oft standen sie lange in der Zellentür und hetzten den Hund, sie machten ihn scharf, und Quangel mußte alles über sich ergehen lassen. Kamen sie aber in ihrer betrunkenen Wut, sie an den Gefangenen auszulassen, so warfen sie Karlchen auf die Erde, er breitete seine Arme auf der Erde aus und flehte sie an, ihm die Gedärme aus dem nackten Leib zu treten.
Mit diesem Mann war Quangel verurteilt, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Minute nach Minute zusammen zu leben. Er, der stets für sich allein gelebt hatte, konnte nun
nicht mehr eine Viertelstunde für sich allein sein. Selbst nachts, wenn er den Tröster Schlaf suchte, war er vor seinem Quäler nicht sicher. Plötzlich hockte er an seinem Bett, hatte die Pranke auf Quangels Brust gelegt und verlangte Wasser oder auch einen Platz auf Quangels Lager.
Der mußte beiseite rücken, er schüttelte sich vor Ekel vor diesem Körper, der nie gewaschen wurde, der haarig war wie der eines Tieres, der aber nichts von der Reinheit und Unschuld der Tiere hatte. Und dann bellte Karlchen leise und fing an, das Gesicht Otto Quangels abzulecken und nach dem Gesicht den
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