Jeder stirbt für sich allein
sie habe eigentlich alles getan und ihr Mann sei nur ein Werkzeug in ihrer Hand gewesen. Aber das gab alles keinerlei Grund ab, kostbare Zigaretten und sättigendes sauberes Essen an Quangel zu verschenken. Der Fall lag klar, es gab an ihm nichts zu bespitzeln.
Richtig überwand Quangel sein Mißtrauen gegen Dr. Reichhardt erst in einer Nacht, da sein Zellenkamerad, der
überlegene, feine Herr, ihm flüsternd gestand, daß auch er noch oft eine grauenhafte Angst vor dem Tode habe, sei es nun Fallbeil oder Strick; der Gedanke daran beschäftige ihn oft stundenlang. Dr. Reichhardt gestand nun auch ein, daß er oft nur mechanisch die Seiten seines Buches umwendete: vor den Augen stand ihm nicht die schwarze Druckschrift, sondern ein grau zementierter Gefängnishof, ein Galgen mit seinem sachte im Winde baumelnden Strick, der aus einem gesunden, kräftigen Manne in drei bis fünf Minuten ein widerliches, verrecktes Stück Kadaver machte.
Aber noch grauenhafter als dieses Ende, dem Dr. Reichhardt (seiner festen Annahme nach) mit jedem Tag seines Lebens unaufhaltsam näher gebracht wurde, noch grauenhafter war ihm der Gedanke an seine Familie. Quangel erfuhr, daß Reichhardt von seiner Frau drei Kinder hatte, zwei Jungen, ein Mädel, das älteste elf, das jüngste erst vier Jahre alt. Und Reichhardt hatte oft Angst, grauenhafte, panische Angst, daß die Verfolger sich nicht mit der Ermordung des Vaters begnügen, sondern daß sie ihre Rache auch auf die unschuldige Frau und die Kinder ausdeh-nen, sie in ein KZ verschleppen und langsam zu Tode martern würden.
Angesichts dieser Sorgen wurde nicht nur Quangels Mißtrauen weggefegt, sondern er kam sich auch wie ein vergleichsweise begünstigter Mann vor. Er hatte nur um Anna zu sorgen, und wenn ihre Aussagen auch widersinnig
und töricht waren, so sah er doch aus ihnen, daß Anna Mut und Kraft zurückgewonnen hatte. Eines Tages würden sie beide gemeinsam sterben müssen, aber das Sterben wurde leichter gemacht dadurch, daß es gemeinschaftlich geschah, daß sie niemanden auf der Erde zurückließen, um den sie sich in ihrer Todesstunde noch ängstigen mußten.
Die Qualen, die Dr. Reichhardt um seine Frau und seine drei Kinder leiden mußte, waren unvergleichlich größer.
Sie würden ihn bis in die letzte Sekunde seines Sterbens begleiten, das begriff der alte Werkmeister wohl.
Was Dr. Reichhardt eigentlich verbrochen haben sollte, daß ihm der Tod so gewiß schien, erfuhr Quangel nie ganz genau. Es schien ihm, als habe sein Zellengefährte sich nicht so sehr aktiv gegen die Hitlerdiktatur vergangen, sich nicht verschworen, keine Plakate geklebt, keine Attentate vorbereitet, als vielmehr nur so gelebt, wie es seiner Überzeugung entsprach. Er hatte sich allen nationalsozialistischen Lockungen entzogen, er hatte nie mit Wort oder Tat oder Geld zu ihren Sammlungen etwas beigesteuert, aber er hatte oft seine warnende Stimme erhoben. Er hatte klar gesagt, für wie unheilvoll er den Weg hielt, den das deutsche Volk unter dieser Führung ging, kurz, er hatte all das, was Quangel in wenigen Sätzen
unbeholfen auf Postkarten geschrieben hatte, zu jedem geäußert, im Inlande wie im Auslande. Denn bis in die ersten Kriegsjahre noch hinein hatten den Dr. Reichhardt seine Konzerte ins Ausland geführt.
Es brauchte sehr viel Zeit, bis der Tischler Quangel sich ein einigermaßen klares Bild von der Art der Arbeit machte, die Dr. Reichhardt draußen in der Welt geleistet hatte - und ganz klar wurde dieses Bild nie, und ganz als Arbeit sah er in seinem tiefsten Innern die Tätigkeit Reichhardts nie an.
Als er zuerst gehört hatte, daß Reichhardt Musiker war, hatte er an die Musikanten gedacht, die in den kleinen Kaffeehäusern zum Tanz aufspielen, und er hatte mitleidig und verächtlich über solche Arbeit für einen starken Mann mit gesunden Gliedern gelächelt. Das war genau wie das Lesen etwas Überflüssiges, auf das nur feine Leute gerieten, die keine vernünftige Arbeit hatten.
Reichhardt mußte es dem alten Mann weitläufig und immer wieder erklären, was ein Orchester war, und was ein Dirigent tat. Quangel wollte das immer wieder hören.
«Und dann stehen Sie also mit einem Stöckchen vor Ihren Leuten und machen nicht mal selbst Musik ...?»
Ja, so sei es wohl.
«Und nur dafür, daß Sie anzeigen, wann jeder losspielen muß und wie laut - nur dafür bekommen Sie soviel Geld?»
Ja, Herr Dr. Reichhardt fürchtete, so sei es wohl, nur da-für bekam er soviel
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