Jeder stirbt für sich allein
Nachspielen ganzer Meisterpartien über, sein klarer, nüchterner Kopf behielt mühelos zwanzig, dreißig Züge, und schnell kam der Tag, da er der überlegene Spieler war.
«Schach und matt, Herr Doktor!» «Da haben Sie mich also wieder drangekriegt, Quangel!» sagte der Doktor und neigte seinen König grüßend vor dem Gegner. «Sie haben das Zeug zu einem sehr guten Spieler in sich.»
«Ich denke jetzt manchmal, Herr Doktor, zu was allem ich wohl das Zeug in mir habe, von dem ich früher nichts wußte. Erst seit ich Sie kenne, erst seitdem ich zum Sterben in diesen Zementkasten gekommen bin, erfahre ich, wieviel ich in meinem Leben doch verpaßt habe.»
«Das wird jedem so gehen. Jeder der sterben muß, und vor allem jeder, der wie wir vor seiner Zeit sterben muß, wird sich über jede vertrödelte Stunde seines Lebens grämen.»
«Aber bei mir ist es doch noch ganz anders, Herr Doktor. Ich hab immer gedacht, es ist genug, wenn ich mein Handwerk ordentlich tue und nichts verlumpe. Und nun erfahre ich, ich hätte noch 'ne ganze Menge andere Dinge tun können: Schach spielen, nett zu den Menschen sein, Musik hören, ins Theater gehen. Wirklich, Herr Doktor, wenn ich vor meinem Sterben noch einen Wunsch äußern dürfte, ich möchte Sie mal mit Ihrem Stöckchen in so einem Symphoniekonzert sehen, wie Sie's nennen. Ich bin neugierig, wie das aussieht, und wie es auf mich wirken würde.» «Keiner kann nach allen Richtungen leben, Quangel.
Das Leben ist so reich. Sie würden sich zersplittert haben.
Sie haben Ihre Arbeit getan und sich immer als ganzer Mann gefühlt. Als Sie noch draußen waren, hat Ihnen nichts gefehlt, Quangel. Sie haben Ihre Postkarten geschrieben .»
«Aber sie haben doch nichts genützt, Herr Doktor! Ich habe gedacht, es haut mich hin, wie der Kommissar Escherich mir beweist, daß von 285 Karten, die ich geschrieben, 267 in seine Hände geraten sind! Nur achtzehn nicht erwischt! Und diese achtzehn haben auch nicht gewirkt!»
«Wer weiß? Und Sie haben doch wenigstens dem Schlechten widerstanden. Sie sind nicht mit schlecht geworden. Sie und ich und die vielen hier in diesem Hause und viele, viele in andern festen Häusern und die Zehntausende in den KZs - sie widerstehen alle noch, heute, morgen .»
«Ja, und dann wird uns das Leben genommen, und was hat dann unser Widerstand genützt?»
«Uns - viel, weil wir uns bis zum Tode als anständige Menschen fühlen können. Und mehr noch dem Volke, das errettet werden wird um der Gerechten willen, wie es in der
Bibel heißt. Sehen Sie, Quangel, es wäre natürlich hundertmal besser gewesen, wir hätten einen Mann gehabt, der uns gesagt hätte: So und so müßt ihr handeln, das und das ist unser Plan. Aber wenn ein solcher Mann in Deutschland gewesen wäre, dann wäre es nie zu 1933
gekommen. So haben wir alle einzeln handeln müssen, und einzeln sind wir gefangen, und jeder wird für sich allein sterben müssen. Aber darum sind wir doch nicht allein, Quangel, darum sterben wir doch nicht umsonst.
Umsonst geschieht nichts in dieser Welt, und da wir gegen die rohe Gewalt für das Recht kämpfen, werden wir am Schluß doch die Sieger sein.»
«Und was werden wir davon haben, da unten in unsern Gräbern?»
«Aber Quangel! Möchten Sie denn lieber für eine ungerechte Sache leben. als für eine gerechte sterben? Es gibt doch gar keine Wahl, weder für Sie noch für mich. Weil wir sind, die wir sind, mußten wir diesen Weg gehen.»
Lange schwiegen sie.
Dann fing Quangel wieder an: «Dieses Schachspiel ...» «Ja, Quangel, was ist damit?»
«Ich denke manchmal, ich tue unrecht damit. Viele Stunden habe ich nur das Schach im Kopf, und ich habe doch noch eine Frau .»
«Sie denken genug an Ihre Frau. Sie wollen stark und mutig bleiben; alles, was Sie stark und mutig erhält, ist gut, und was Sie schwach und zweiflerisch macht wie Grübeln, ist schlecht. Was nützt Ihrer Frau das Grübeln?
Ihr nützt, wenn der Pastor Lorenz ihr wieder einmal sagen kann, daß Sie stark und mutig sind.»
«Aber er kann, seit sie diese Zellengenossin hat, nicht mehr offen mit ihr sprechen. Der Pastor hält das Weib auch für eine Spionin.»
«Der Pastor wird es Ihrer Frau schon begreiflich machen, daß es Ihnen gut geht und daß Sie sich stark fühlen.
Dafür genügt schließlich ein Kopfnicken, ein Blick. Der Pastor Lorenz kennt sich aus.»
«Ich möchte ihm gern einmal einen Brief an Anna mitgeben», sagte Quangel nachdenklich.
«Tun Sie das lieber nicht.
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