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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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weitersprechen, sondern las wirklich.
    Komisch, diese feinen Leute! dachte er. Ich hätt noch 'ne Masse zu fragen gehabt. Aber wenn er nicht will, auch gut. Ich will nicht sein Hund werden, der ihm keine Ruhe läßt. Und ein wenig gekränkt machte er sich an das Beziehen seines Bettes.
    Die Zelle war sehr sauber und hell. Sie war auch nicht gar zu klein, man konnte drei und einen halben Schritt hin und wieder drei und einen halben Schritt zurück gehen. Das Fenster stand halb offen, die Luft war gut.
    Es roch hier angenehm; wie Quangel später feststellen konnte, kam dieser gute Geruch von der Seife und der Wäsche des Herrn Reichhardt her. Nach der stickigstinkenden Atmosphäre des Gestapobunkers fühlte sich Quangel an einen hellen, fröhlichen Ort versetzt.
    Nachdem er sein Bett bezogen hatte, setzte er sich darauf und sah zu seinem Zellengenossen hin. Der Herr las. In ziemlich rascher Folge wendete er Blatt um Blatt. Quangel, der sich nicht erinnern konnte, seit seiner Schulzeit ein Buch gelesen zu haben, dachte verwundert: Was der nur zu lesen hat? Ob der nichts nachzudenken hat, hier an diesem
    Ort? Ich könnte nicht so ruhig sitzen und lesen! Ich muß immerzu an Anna denken, und wie alles gekommen ist, und wie es weitergeht, und ob ich mich auch weiter an-ständig halte. Er sagt, ich kann mir 'nen Rechtsanwalt nehmen. Aber ein Rechtsanwalt kostet einen Haufen Geld, und was soll er mir nützen, wo ich schon zum Tode verurteilt bin? Ich habe doch alles zugegeben! So ein feiner Herr
    - bei dem ist alles anders. Ich hab's ja gleich gesehen, wie ich reinkam, der Aufseher hat ihn richtig mit Herr und Doktor angeredet. Der wird nicht viel ausgefressen haben
    - der hat gut lesen. Immerzu lesen ...
    Der Doktor Reichhardt unterbrach nur zweimal sein vormittägliches Lesen. Das eine Mal sagte er, ohne aufzusehen: «Zigaretten und Streichhölzer liegen im Schränkchen - wenn Sie rauchen mögen?»
    Aber als Quangel antwortete: «Ich rauche doch nicht!
    Dafür ist mir mein Geld zu schade!» las er schon wieder.
    Das andere Mal war Quangel auf den Schemel gestiegen und bemühte sich, auf den Hof hinauszuschauen, von dem das gleichmäßige Scharren vieler Füße ertönte.
    «Jetzt lieber nicht, Herr Quangel!» sagte der Dr. Reichhardt. «Jetzt ist Freistunde. Manche Beamte merken sich genau die Fenster, wo einer rausschaut. Dann fliegt
    der in die Dunkelzelle bei Wasser und Brot. Abends können Sie meist aus dem Fenster sehen.»
    Dann kam das Mittagessen. Quangel, der den liederlich zusammengekochten Fraß des Gestapobunkers gewohnt war, sah mit Staunen, daß es hier zwei große Näpfe mit Suppe gab und zwei Teller mit Fleisch, Kartoffeln und grünen Bohnen. Aber mit noch größerem Erstaunen sah er, wie sein Zellengenosse sich in das Waschbecken ein wenig Wasser tat, sich sorgfältig die Hände wusch und sie dann abtrocknete. Dr. Reichhardt füllte neues Wasser ins Becken und sagte sehr höflich: «Bitte sehr, Herr Quangel!» und Quangel wusch sich gehorsam auch die Hände, obwohl er doch nichts Schmutziges angefaßt hatte.
    Dann aßen sie fast schweigend das für Quangel ungewohnt gute Mittagessen.
    Es dauerte drei Tage, bis der Werkmeister begriff, daß dieses Essen nicht die übliche vom Volksgericht den Untersuchungshäftlingen gespendete Kost war, sondern Herrn Dr. Reichhardts privates Essen, an dem er seinen Zellengenossen ohne alles Aufheben teilnehmen ließ. Wie er auch bereit war, Quangel von allem abzugeben, von seinen Rauchwaren, der Seife, seinen Büchern; der andere mußte nur wollen.
    Und es dauerte noch einige Tage länger, bis Otto Quangel sein plötzlich angesichts all solcher Freundlichkeiten gegen Dr. Reichhardt aufgekommenes Mißtrauen überwand. Wer solche ungeheuerlichen Vergünstigungen ge-noß, mußte ein Spitzel des Volksgerichts sein, dieser Gedanke hatte sich in Otto Quangel festgesetzt. Wer solche Gefälligkeiten erwies, der mußte vom andern was wollen.
    Nimm dich in acht, Quangel!
    Aber was konnte der Mann von ihm wollen? In Quangels Fall lag alles klar, auch vor dem Untersuchungsrichter des Volksgerichts hatte er nüchtern und ohne viel Worte die Aussagen wiederholt, die er schon vor den Kommissa-ren Escherich und Laub gemacht hatte. Er hatte alles er-zählt, wie es wirklich gewesen war, und wenn die Akten noch immer nicht zur Anklageerhebung und Festsetzung des Verhandlungstermins weitergegeben waren, so lag das nur daran, daß Frau Anna mit einer Hartnäckigkeit sondergleichen darauf bestand,

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