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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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antwortet er zögernd. Er ist so penibel, der kleine, ordentliche Herr. Die kleinste Unwahrheit dieser Sterbenden gegenüber widerstrebt ihm. Sie ahnt es ja nicht, welche Listen er hat aufwenden, welche Intrigen er hat anzetteln müssen, um diese Besuchserlaubnis zu erhalten! Daß er seine sämtlichen Beziehungen hat einspannen müssen! Für die Welt ist Anna Quangel ja tot
    - kann man denn Tote besuchen?
    Aber er wagt ihr nicht zu sagen, daß er Otto Quangel in diesem Leben nie wiedersehen wird, daß er nichts von ihm gehört hat, daß er eben gelogen hat mit seinem Gruß, um dieser völlig verfallenen Frau doch ein wenig Mut zu geben. Manchmal muß man eben auch Sterbende belügen.
    «Ach!» sagt sie plötzlich ganz lebhaft, und - siehe! - ih-re blassen, eingefallenen Wangen röten sich. «Sagen Sie Otto doch, wenn Sie ihn sehen, daß ich jede Stunde an ihn denke und daß ich bestimmt weiß, ich werde ihn noch sehen, ehe ich sterbe ...»
    Der Aufseher sieht einen Augenblick verwirrt auf die alternde Frau, die hier spricht wie ein junges, verliebtes Mädchen. Altes Stroh brennt am hellsten! denkt er und geht wieder ans Fenster.
    Sie hat nichts davon gemerkt, sie fährt fieberhaft fort:
    «Und sagen Sie Otto doch auch, daß ich eine schöne Zelle habe für mich ganz allein. Es geht mir gut. Ich denke immer an ihn, und so bin ich glücklich. Ich weiß, daß uns nie etwas trennen kann, nicht Mauern, nicht Gitter. Ich bin bei ihm, jede Stunde bei Tag und bei Nacht. Sagen Sie ihm das!»
    Sie lügt, oh, wie sie lügt, um ihrem Otto nur etwas Gutes zu sagen!
    Sie will ihm Ruhe geben, die Ruhe, die sie nicht eine Stunde gehabt hat, seit sie in diesem Hause ist.
    Der Kammergerichtsrat schielt zu dem Aufseher hinüber, der aus dem Fenster starrt, er flüstert: «Verlieren Sie nicht, was ich Ihnen gegeben habe!», denn Frau Quangel sieht aus, als habe sie die ganze Welt vergessen.
    «Nein, ich verliere nichts, Herr Rat.» Und plötzlich leise: «Was ist es?»
    Und er noch leiser: «Gift, Ihr Mann hat es auch.» Sie nickt.
    Der Beamte am Fenster dreht sich um. Er sagt mahnend:
    «Hier darf nur laut gesprochen werden, sonst ist gleich Schluß. Übrigens», er befragt seine Uhr, «ist die Besuchszeit sowieso in anderthalb Minuten um.»
    «Ja», sagt sie nachdenklich. «Ja», und plötzlich weiß sie, wie sie es sagen soll. Sie fragt: «Und glauben Sie, daß Otto bald verreisen wird - vor seiner großen Reise noch? Glauben Sie das?»
    Ihr Gesicht drückt jetzt so sehr schmerzliche Unruhe aus, daß selbst der stumpfe Beamte merkt, es geht hier um ganz andere Dinge, als gesprochen wird. Einen Augenblick will er einschreiten, aber dann sieht er diese alternde Frau
    an und diesen Herrn mit dem weißen Spitzbart, der laut Besuchsschein Kammergerichtsrat ist - der Beamte hat eine großmütige Anwandlung und sieht wieder aus dem Fenster.
    «Ja, das ist schwer zu sagen», antwortet der Rat vorsichtig. «Mit dem Reisen ist es ja jetzt auch schwierig.» Und ganz rasch, flüsternd: «Warten Sie bis zur allerletzten Minute, vielleicht sehen Sie ihn noch vorher. Ja?»
    Sie nickt, sie nickt wieder.
    «Ja», antwortet sie laut. «So ist es wohl das allerbeste.»
    Und dann stehen sich die beiden stumm gegenüber, plötzlich fühlen sie, sie haben sich nichts mehr zu sagen.
    Zu Ende. Vorbei.
    «Ja, ich glaube, ich muß dann gehen», sagt der alte Rat.
    «Ja», flüstert sie zurück, «ich glaube, es wird Zeit.»
    Und plötzlich - der Aufseher hat sich schon umgewen-det und sieht, mit der Uhr in der Hand, auffordernd die beiden an - überkommt es Frau Quangel. Sie preßt den Körper gegen das Gitter, sie flüstert, den Kopf an den Gitterstäben: «Bitte, bitte - Sie sind vielleicht der letzte anständige Mensch auf der Welt, den ich zu sehen bekomme. Bitte, Herr Rat, geben Sie mir einen Kuß! Ich werde die
    Augen zumachen, ich werde glauben, es ist Otto ...»
    Mannstoll! denkt der Aufseher. Soll hingerichtet werden und noch immer mannstoll! Und so ein oller ...
    Aber der alte Rat sagt mit sanfter, freundlicher Stimme:
    «Nicht bange sein, Kind, nicht bange sein ...»
    Und seine alten, dünnen Lippen berühren sanft ihren trockenen, rissigen Mund.
    «Nicht bange sein, Kind. Sie haben den Frieden bei sich .»
    «Ich weiß», flüstert sie. «Ich danke Ihnen sehr, Herr Rat.»
    Dann ist sie wieder in ihrer Zelle, die Bindfäden liegen unordentlich am Boden, und sie geht hin und her, sie ungeduldig mit den Füßen stoßend, wie in ihren schlimmsten

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