Jeder stirbt für sich allein
Tagen. Sie hat den Zettel gelesen, sie hat ihn verstanden. Sie weiß nun, Otto wie sie haben eine Waffe, sie können jederzeit dieses jammervolle Leben von sich werfen, wenn es gar zu unerträglich wird. Sie braucht sich nicht mehr quälen zu lassen, sie kann jetzt, in dieser Minute, da noch ein bißchen Glück von dem Besuch in ihr ist, ein Ende machen.
Sie wandert, sie redet mit sich, sie lacht, sie weint.
An der Tür lauschen sie. Sie sagen: «Jetzt fängt sie richtig an zu spinnen. Ist die Tobjacke bereit?»
Die Frau drinnen merkt nichts davon, sie kämpft ihren schwersten Kampf. Sie sieht den alten Rat Fromm wieder vor sich, sein Gesicht war so ernst, als er sagte, sie möge bis zur allerletzten Minute warten, vielleicht bekomme sie ihren Mann doch noch einmal zu sehen.
Und sie hat ihm zugestimmt. Natürlich ist es das richtige, sie muß warten, Geduld üben, vielleicht dauert es noch Monate. Aber seien es auch nur noch Wochen, es ist so schwer, jetzt noch zu warten. Sie kennt sich doch, wieder wird sie verzweifeln, lange weinen, in Trübsinn verfallen, alle sind so hart mit ihr, nie ein gutes Wort, nie ein Lächeln. Die Zeit wird kaum zu ertragen sein. Sie braucht nur ein bißchen zu spielen, mit der Zunge und mit den Zähnen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein bißchen probieren, und schon ist es geschehen. Es ist ihr jetzt so leicht gemacht - es ist ihr zu leicht gemacht!
Das ist es. In irgendeiner Stunde wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Augenblick, da sie es getan hat, in dem ganz kleinen Augenblick zwischen Tat und Tod wird sie es bereuen, wie sie nie etwas im Leben bereut hat: sie hat sich der Aussicht beraubt, ihn noch einmal
wiederzusehen, weil sie feige und schwach war. Man wird ihm die Nachricht von ihrem Tode bringen, und er wird erfahren, daß sie ihn verlassen hat, daß sie ihn verraten hat, daß sie feige war. Und er wird sie verachten, er, dessen Achtung ihr allein auf der Welt etwas g i lt.
Nein, sie muß diese unselige Glasröhre auf der Stelle zerstören. Morgen früh kann es vielleicht zu spät sein, wer weiß, in welcher Stimmung sie morgen früh auf-wacht.
Aber auf dem Wege zum Kübel hält sie inne ...
Und wieder nimmt sie ihre Wanderung auf. Plötzlich hat sie sich erinnert, daß sie sterben muß und wie sie sterben muß. Sie hat es ja gehört in diesem Gefängnis bei ihren Fenstergesprächen, daß es nicht der Galgen sein wird, der sie erwartet, sondern das Fallbeil. Sie haben es ihr gerne geschildert, wie man sie auf den Tisch schnallen wird, auf dem Bauche liegend wird sie in einen mit Sägemehl halbgefüllten Korb starren, und auf dieses Sägemehl fällt in wenigen Sekunden ihr Kopf. Man wird ihren Nacken entblößen, und über diesem Nacken wird sie die Kälte des Fallbeils spüren, noch ehe es zu stürzen beginnt. Dann wird das Sausen immer lauter werden, es wird in ihren Ohren dröhnen wie eine Trompete des Jüngsten Gerichts, und dann wird ihr Körper nur ein zuckendes Etwas sein, dessen Halsstumpf dicke Strahlen Blut ausspeit, während der Kopf im Korbe vielleicht nach dem blutspeienden Halse glotzt und noch sehen kann, fühlen kann, leiden kann .
So haben sie es ihr erzählt, und so hat sie es sich viele hundert Male vorstellen müssen, und davon hat sie geträumt manches Mal, und von all diesen Schrecknissen kann ein einziger Biß auf das Glasröhrchen sie befreien!
Und das soll sie von sich tun, diese Erlösung soll sie aufgeben? Sie hat die Wahl zwischen einem leichten Tod und einem schweren Tod - und sie soll den schweren Tod wählen, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu werden, vor Otto zu sterben? Sie schüttelt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach werden. Sie kann das doch, warten bis zur letzten Minute. Sie will Otto wiedersehen.
Sie hat die Angst ausgehalten, die sie immer ergriff, wenn Otto die Karten ablegte, sie hat den Schreck der Verhaftung ausgehalten, sie hat die Quälereien des Kommissars Laub überstanden, sie hat Trudels Tod verwunden
- sie wird doch noch warten können, ein paar Wochen, ein paar Monate! Sie hat alles ertragen - auch dies wird sie ertragen! Natürlich muß sie das Gift aufbewahren bis zur letzten Minute.
Sie wandert auf und ab, auf und ab.
Aber der eben gefaßte Entschluß erleichtert sie nicht.
Von neuem beginnt der Zweifel, und von neuem schlägt sie sich mit ihm herum, und wieder beschließt sie, das Gift jetzt, sofort, auf der Stelle zu vernichten, und wieder tut sie es
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