Jeder stirbt für sich allein
Verloren, vorbei, alles verloren, alles vorbei!
Einsam in der Zelle, nur noch den nahen, gewissen Tod vor sich, ohne Wort von Otto, vielleicht nie wieder sein Gesicht - allein zum Sterben, allein im Grabe ...
Sie geht stundenlang in der Zelle auf und ab, sie erträgt es nicht. Sie hat ihre Arbeit vergessen, die Bindfaden-knäuel liegen noch immer verknotet und verwirrt auf der Erde, sie stößt sie mit dem Fuße fort, ungeduldig - und als die Wärterin die Zelle am Abend aufschließt, ist nichts getan.
Es gibt harte Worte, aber sie hört gar nicht hin, mögen die doch mit ihr machen, was sie wollen, mögen die sie doch schnell hinrichten - um so besser!
«Paßt auf, was ich euch sage», sagte die Aufseherin ihren Kolleginnen. «Die fängt bald an zu spinnen, haltet immer schon eine Tobjacke bereit. Und seht oft nach ihr rein, die ist imstande und baumelt sich am hellerlichten Tage, im Handumdrehen baumelt die sich auf, und wir haben nachher die Scherereien!»
Aber darin hatte die Aufseherin unrecht: an Aufbaumeln denkt Anna Quangel nicht. Was sie am Leben erhält, was selbst dieses niedere Dasein ihr lebenswert erscheinen läßt, das ist der Gedanke an Otto. Sie kann doch nicht so von hier fortgehen, sie muß warten, vielleicht bekommt sie ei-ne Nachricht von ihm, vielleicht wird ihr sogar erlaubt, ihn noch einmal vor ihrem Tode wiederzusehen.
Und dann, eines Tages unter diesen trüben Tagen, scheint das Glück ihr zu lächeln. Eine Wärterin öffnet plötzlich die Zellentür: «Mitkommen, Quangel! Besuch!»
Besuch? Wer soll mich hier besuchen? Ich habe doch keinen, der mich hier besuchen kann. Es wird Otto sein!
Es muß Otto sein! Ich fühle es, das ist Otto!
Sie wirft einen Blick auf die Wärterin, sie möchte ihr so
gerne die Frage nach dem Besucher stellen, aber es ist gerade eine Wärterin, mit der sie ständig Streit gehabt hat, sie kann diese Frau nicht fragen. Sie folgt ihr, am ganzen Leibe zitternd, sie sieht nichts, sie weiß nicht, wohin sie gehen, sie erinnert sich nicht mehr, daß sie bald sterben muß - sie weiß nur, sie geht zu Otto, zu dem einzigen Menschen auf der ganzen Welt ...
Die Wärterin übergibt die Gefangene 76 einem Wachtmeister, sie wird in eine Stube geführt, die durch ein Gitter in zwei Hälften geteilt ist, auf der andern Seite des Gitters steht ein Mann.
Und alle Freude fällt von Anna Quangel ab, als sie diesen Mann sieht. Es ist nicht Otto, es ist nur der alte Kammergerichtsrat Fromm. Da steht das Männlein, sieht ihr entgegen mit seinen blauen Augen, die von einem Fältchenkranz umgeben sind, und sagt: «Ich wollte doch mal nach Ihnen sehen, Frau Quangel.»
Der Aufsichtsbeamte hat sich ans Gitter gestellt, er betrachtet nachdenklich die beiden. Dann wendet er sich gelangweilt ab und geht ans Fenster.
«Schnell!» flüstert der Rat und hält ihr durchs Gitter etwas hin.
Instinktiv faßt sie zu. «Stecken Sie es weg!» flüstert er.
Und sie verbirgt das weiße Röllchen.
Ein Brief von Otto, denkt sie, und ihr Herz klopft wieder freier. Die Enttäuschung ist überwunden.
Der Beamte hat sich wieder umgedreht und sieht vom Fenster her auf die beiden.
Endlich findet Anna ein paar Worte. Sie begrüßt den Kammergerichtsrat nicht, sie sagt kei nen Dank, sie stellt die einzige Frage, die sie noch auf der Welt interessiert:
«Haben Sie Otto gesehen, Herr Kammergerichtsrat?»
Der alte Herr wiegt den klugen Kopf hin und her.
«Nicht in der letzten Zeit», antwortet er. «Aber ich habe durch Freunde gehört, daß es ihm gut geht, sehr gut. Er hält sich wunderbar.»
Er bedenkt sich und setzt nach einem kurzen Zögern hinzu:
«Ich glaube, ich darf Sie von ihm grüßen.»
«Danke», flüstert sie. «Danke sehr.»
Viele verschiedene Empfindungen sind bei seinen Worten durch sie gelaufen. Wenn er ihn nicht gesehen hat, kann er
auch keinen Brief von ihm haben. Aber nein, er spricht von Freunden; vielleicht bekam er durch die Freunde einen Brief? Und die Worte «Er hält sich wunderbar» geben ihr Glück und Stolz ... Und dieser Gruß von ihm, dieser Gruß zwischen den Eisen-und Steinzel-len, dieser Frühling zwischen Mauern! O herrlich, herrlich, ein herrliches Leben!
«Sie sehen aber nicht gut aus, Frau Quangel», sagt der alte Rat.
«Ja?» fragt sie, ein wenig verwundert, geistesabwesend.
«Aber mir geht es gut. Sehr gut. Sagen Sie das Otto. Bitte, sagen Sie es ihm! Vergessen Sie nicht, ihn von mir zu grüßen. Sie werden ihn doch sehen?»
«Ich denke, ja»,
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