Jeder stirbt für sich allein
die halbe Nacht Licht, bei dem war es nicht verwunderlich. Und Persickes feierten wohl noch immer den Sieg über Frankreich. Aber daß die alte Rosenthal Licht brannte, und das offen in allen Fenstern, da stimmte etwas nicht. Die alte Frau war so ängstlich und verschüchtert, die würde nie ihre Wohnung so illuminieren.
Da stimmt was nicht! dachte Otto Quangel, während er die Haustür aufschloß und langsam anfing, die Treppen hinaufzusteigen. Er hatte es wie immer unterlassen, das Licht einzuschalten, er war nicht nur für sich sparsam, das heißt genau. Er war es für alle, auch für den Hauswirt. Da stimmt was nicht! Aber was geht es mich an? Die Leute gehen mich gar nichts an! Ich lebe für mich allein. Mit der Anna. Nur wir beide. Außerdem macht vielleicht die Gestapo da oben gerade Haussuchung. Hübsch, wenn ich da reinplatze! Nein, ich gehe schlafen ...
Aber der durch den Vorwurf «Du und dein Hitler» so verstärkte Sinn für Genauigkeit, den man fast schon Gerechtigkeitssinn nennen konnte, fand dies Ergebnis seiner Überlegungen doch recht dürftig. Er stand jetzt wartend, die Schlüssel in der Hand, vor seiner Wohnungstür, den Kopf nach oben gedreht. Die Tür mußte dort offenstehen, es war eine dämmrige Helle da oben, auch hörte er eine scharfe Stimme sprechen. Eine alte Frau ganz für sich allein, dachte er plötzlich zu seiner eigenen Überraschung.
Ohne jeden Schutz. Ohne Gnade .
In diesem Augenblick war es, daß eine kleine, doch kräftige Männerhand ihn aus dem Dunkel heraus an der Brust faßte und gegen die Treppe hin drehte. Eine sehr höfliche, gepflegte Stimme sagte dazu: «Gehen Sie bitte voraus, Herr Quangel. Ich folge und tauche im passenden Augenblick auf.»
Ohne zu zögern, ging Quangel nun die Treppe hinauf, eine solche überredende Gewalt hatte in dieser Hand und in dieser Stimme gelegen. Das kann nur der alte Rat Fromm gewesen sein, dachte er. So ein Heimlicher. Ich glaube, ich habe ihn in all den Jahren, die ich hier wohne, keine zwanzigmal bei Tage gesehen, und nun kriecht er hier zur Nachtzeit auf den Treppen herum!
Während er so dachte, war er, ohne zu zögern, die Treppe hinaufgestiegen und in der Rosenthalschen Wohnung angelangt. Er hatte noch gesehen, wie sich bei seinem Erscheinen eine dickliche Gestalt - wohl der alte Persicke
überstürzt in die Küche zurückzog, er hatte auch noch die letzten Worte Baldurs gehört von dem Ding, das gedreht worden war, und daß man nicht ewig Angst haben sollte
... Nun standen sich die beiden, Quangel und Baldur, schweigend Auge in Auge gegenüber.
Einen Augenblick glaubte selbst Baldur Persicke alles verloren. Aber dann besann er sich auf einen seiner Lebensgrundsätze: Frechheit siegt, und sagte etwas herausfordernd: «Ja, da staunen Sie! Aber Sie sind ein bißchen zu spät gekommen, Herr Quangel, wir haben die Einbrecher erwischt und unschädlich gemacht.» Er machte eine Pause, aber Quangel schwieg. Etwas matter setzte Baldur hinzu: «Einer von den beiden Raben scheint übrigens der Borkhausen zu sein, der hier bei uns auf dem Hofe eine Nuttenwirtschaft duldet.»
Quangels Blick folgte Baldurs weisendem Finger. «Ja», sagte er trocken, «einer von den Raben ist der Borkhausen.»
«Und überhaupt», ließ sich plötzlich ganz unerwartet der SS-Bruder Adolf Persicke vernehmen, «was stehen Sie hier und starren bloß? Sie könnten ganz ruhig auf das Revier gehen, Quangel, und den Einbruch melden, damit die hier die Brüder abholen! Wir passen unterdes auf!»
«Stille biste, Adolf!» zischte Baldur ärgerlich. «Du hast dem Herrn Quangel gar keine Befehle zu geben! Herr Quangel weiß schon, was er zu tun hat.»
Aber gerade das wußte Quangel in diesem Augenblick nicht. Wäre er für sich allein gewesen, er hätte sofort einen Entschluß gefaßt. Aber da war diese Hand an seiner Brust, diese höfliche Männerstimme gewesen; er ahnte nicht, was der alte Kammergerichtsrat vorhatte, was er von ihm erwartete. Er wollte ihm sein Spiel nicht verderben. Wenn er nur wüßte .
Aber gerade in diesem Augenblick tauchte der alte Herr auf der Bildfläche auf, nicht, wie Quangel erwartet hatte, neben ihm, sondern aus dem Innern der Wohnung kommend. Plötzlich stand er wie eine Geistererscheinung zwischen ihnen und jagte den Persickes einen neuen, noch größeren Schrecken ein.
Er sah übrigens höchst seltsam aus, der alte Herr. Die zierliche, kaum mittelgroße Gestalt war ganz in einen seidenen, schwarzblauen Schlafrock gehüllt, dessen
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