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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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besonders gut geschmeckt habe.
    Und nun nichts!
    Anna Quangel spürte es je länger je stärker, daß die tiefe Trauer, die sie um den verlorenen Sohn empfand, sich zu zerstreuen anfing vor der Unruhe über den so veränderten Mann. Sie wollte nur an den Jungen denken; aber sie konnte es nicht mehr, wenn sie diesen Mann beobachtete, ihren langjährigen Ehemann Otto Quangel, immerhin den Mann, dem sie die meisten und besten Jahre ihres Lebens gewidmet hatte. Was war in diesen Mann gefahren? Was war los mit ihm? Was hatte ihn so verändert?
    Am Freitag um die Mittagszeit war bei Anna Quangel aller
    Zorn und aller Vorwurf gegen Otto vergangen. Hätte sie sich den geringsten Erfolg davon versprochen, so hätte sie ihn wegen ihres vorschnellen Wortes «Du und dein Führer» um Verzeihung gebeten. Aber es war klar zu sehen, daß Quangel nicht mehr an diesen Vorwurf dachte, ja, anscheinend dachte er auch nicht mehr an sie. Er sah an ihr vorbei, er sah durch sie hindurch, er stand am Fenster, die Hände in den Taschen seines Arbeitsrocks und pfiff langsam, nachdenklich, mit großen Pausen dazwischen, vor sich hin, was er sonst nie getan hatte.
    An was dachte der Mann? Was machte ihn innerlich so erregt? Sie setzte ihm das Essen auf den Tisch, er fing an zu löffeln. Einen Augenblick beobachtete sie ihn so von der Küche aus. Sein scharfes Gesicht war über den Teller geneigt, aber den Löffel führte er ganz mechanisch zum Munde, seine dunklen Augen blickten auf etwas, das nicht da war.
    Sie wandte sich in die Küche zurück, einen Rest Kohl zu wärmen. Gewärmten Kohl aß er gerne. Sie war nun fest entschlossen, ihn gleich jetzt anzusprechen, wenn sie mit dem Kohl hereinkam. Er mochte ihr noch so scharf antworten, sie mußte dieses unheilvolle Schweigen brechen.
    Aber als sie mit dem gewärmten Kohl wieder in die Stube kam, war Otto gegangen, der Teller stand halb leer gegessen auf dem Tisch. Entweder hatte Quangel ihre
    Absicht gemerkt und sich fortgeschlichen wie ein Kind, das weiter trotzen will, oder er hatte über dem, das ihn innerlich so unruhig machte, das Weiteressen einfach vergessen. Jedenfalls war er fort, und sie mußte bis in die Nacht auf ihn warten.
    Aber in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend kam Ot-to so spät von der Arbeit, daß sie trotz all ihrer guten Vorsätze schon eingeschlafen war, als er sich ins Bett legte.
    Sie wachte erst später auf von seinem Husten; sie fragte behutsam: «Otto, schläfst du schon?»
    Der Husten hörte auf, er lag ganz still. Noch einmal fragte sie: «Otto, schläfst du schon?»
    Und nichts, keine Antwort. So lagen sie beide sehr lange still. Jeder wußte von dem andern, er schlief noch nicht.
    Sie wagten nicht, ihre Stellung zu ändern, um sich nicht zu verraten. Endlich schliefen sie beide ein.
    Der Sonnabend ließ sich noch schlimmer an. Otto Quangel war ungewohnt früh aufgestanden. Ehe sie ihm noch seinen Muckefuck auf den Tisch setzen konnte, war er schon wieder fortgelaufen zu einem jener hastigen, unbegreiflichen Gänge, die er früher nie unternommen hatte. Er kam zurück, von der Küche her hörte sie ihn in der
    Stube auf und ab gehen. Als sie mit dem Kaffee hereinkam, faltete er sorgfältig ein großes weißes Blatt, in dem er am Fenster gelesen, zusammen und steckte es ein.
    Anna war sicher, daß es keine Zeitung gewesen war. Es war zuviel Weiß auf dem Blatt, und die Schrift war größer als in einer Zeitung gewesen. Was konnte der Mann gelesen haben?
    Sie ärgerte sich wieder über ihn, seine Heimlichtuerei, all dies Verändertsein, das so viel Unruhe und neue Sorgen brachte, zu all den alten hinzu, die doch schon gereicht hatten. Trotzdem sagte sie: «Kaffee, Otto!»
    Bei dem Klang ihrer Stimme wendete er sein Gesicht und sah sie an, ganz als sei er verwundert, daß er nicht allein sei in dieser Wohnung, verwundert, wer da mit ihm sprach. Er sah sie an, und er sah sie doch wieder nicht an.
    Es war nicht seine Ehegefährtin Anna Quangel, die er so ansah, sondern jemand, den er einmal gekannt hatte und dessen er sich mühsam erinnern mußte. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, in den Augen; über die ganze Fläche des Gesichts war dieses Lächeln ausgebreitet, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie war im Begriff zu rufen: Otto, ach Otto, geh doch nun nicht auch du von mir!
    Aber ehe sie sich noch recht entschlossen hatte, war er an ihr vorübergegangen und aus der Wohnung fort. Wiederum ohne Kaffee, wieder mußte sie ihn zum Wärmen in die Küche

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