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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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bevorstand.
    Es war schon wieder Tag! Wieder hatte sie den Kammergerichtsrat verschlafen, den einzigen Menschen, mit dem sie sprechen konnte! Sie hatte sich fest vorgenommen, wach zu bleiben, und nun war sie doch wieder eingeschlafen! Wieder einen Tag allein, zwölf Stunden, fünfzehn Stunden! Oh, sie hielt das nicht mehr aus! Die Wände dieses Zimmers stürzten über ihr zusammen, immer das gleiche bleiche Gesicht im Spiegel, stets wieder dasselbe Geld zählen - nein, so ging es nicht weiter. Das Schlimmste war nicht so schlimm wie dieses tatenlose Eingesperrt-sein.
    Hastig kleidet sich Frau Rosenthal an. Dann geht sie an die Tür, sie dreht den Riegel, öffnet leise und späht auf den Flur hinaus. Alles ist still in der Wohnung, auch im Hause ist noch alles still. Die Kinder lärmen noch nicht auf der Straße - es muß noch sehr früh sein. Vielleicht ist der Rat noch in seinem Bücherzimmer? Vielleicht kann sie ihm noch guten Morgen sagen, zwei, drei Sätze mit ihm wechseln, die ihr Mut machen werden, einen endlosen Tag zu ertragen?
    Sie wagt es, gegen sein Verbot wagt sie es. Sie geht rasch über den Flur und tritt in sein Zimmer ein. Sie schreckt etwas vor der Helle zurück, die durch die geöffneten Fenster hereinströmt, vor der Straße, der
    Öffentlichkeit, die mit dieser Luft zusammen hier jetzt herrschen. Aber noch mehr erschrickt sie vor einer Frau, die mit einem Teppichroller den Zwickauer Teppich reinigt. Sie ist eine dürre, ältere Frau; das Tuch um den Kopf, der Teppichroller bestätigen, daß sie hier die Reinemachefrau ist.
    Beim Eintritt von Frau Rosenthal hat diese Frau die Arbeit unterbrochen. Sie starrt erst einen Augenblick die unerwartete Besucherin an, wobei sie die Augenlider rasch hintereinander ein paarmal zukneift, als könne sie den Anblick da nicht für ganz wirklich nehmen. Dann lehnt sie den Teppichroller gegen den Tisch und fängt an, mit Händen und Armen abwehrende Bewegungen zu machen, wobei sie von Zeit zu Zeit ein scharfes «Sch! Sch!» ausstößt, als scheuchte sie Hühner.
    Frau Rosenthal, schon im Rückzug, sagt flehend:
    «Wo ist der Kammergerichtsrat? Ich muß ihn einen Augenblick sprechen!»
    Die Frau kneift die Lippen eng zusammen und schüttelt heftig den Kopf. Dann beginnt sie wieder mit ihren Scheuchbewegungen und dem «Sch! Sch!», bis Frau Rosenthal ganz in ihr Zimmer zurückgewichen ist. Dort sinkt sie, während die Reinemachefrau leise die Tür schließt, an ihrem Tisch in den Sessel und bricht fassungs-los in Tränen aus. Alles umsonst! Wieder ein Tag, der sie nur zum einsamen, sinnlosen Warten verurteilt! Viel geschieht in der Welt, vielleicht stirbt jetzt gerade Siegfried oder eine deutsche Fliegerbombe tötet ihr die Eva - sie aber muß hier immer weiter im Dunkeln sitzen und nichts tun.
    Sie schüttelt unwillig den Kopf: Sie macht dies einfach nicht mehr mit. Sie macht es nicht! Wenn sie unglücklich sein soll, wenn sie denn ewig gehetzt und in Angst leben soll, so will sie dies auf ihre Art tun. Möge sich denn diese Tür für immer hinter ihr schließen, sie kann es nicht hindern. Sie war gut gemeint, diese Gastfreundschaft, aber sie tut ihr nicht gut.
    Als sie wieder an der Tür steht, besinnt sie sich. Sie geht wieder an den Tisch zurück und nimmt das dicke, goldene Armband mit den Saphiren. Vielleicht so ...
    Doch in dem Arbeitszimmer ist die Frau nicht mehr, die Fenster sind schon wieder geschlossen. Frau Rosenthal steht abwartend auf dem Flur, nahe der Ausgangstür. Dann hört sie Tellergeklapper, und sie folgt diesem Geräusch, bis sie die Frau in der Küche beim Abwaschen findet.
    Sie hält ihr flehend das Armband hin und sagt stockend:
    «Ich muß den Kammergerichtsrat wirklich sprechen. Bitte, bitte doch!»
    Die Bedienerin hat bei der neuerlichen Störung die Stirn gerunzelt. Nur einen flüchtigen Blick wirft sie auf das hingehaltene Armband. Dann beginnt sie wieder zu scheuchen, mit rudernden Armbewegungen und «Sch!
    Sch!», und vor diesem Scheuchen flieht Frau Rosenthal in ihr Zimmer. Sie stürzt geradezu auf ihren Nachttisch zu, sie nimmt aus der Lade das ihr vom Kammergerichtsrat verordnete Schlafmittel.
    Sie hat bisher diese Schlafmittel nie gebraucht. Nun schüttet sie alle, zwölf oder vierzehn an der Zahl, in ihre hohle Hand, geht zum Waschtisch und spült sie mit einem Glas Wasser hinunter. Sie muß heute schlafen, sie will heute den Tag verschlafen ... Dann wird sie abends den Kammergerichtsrat sprechen und hören, was zu tun ist.
    Sie

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